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Der Generationenwechsel, sinkende Renten, der Mangel an Fachkräften, all das sind Zeichen einer Veränderung in unserer Gesellschaft. Doch eine Veränderung bleibt bisher unbeachtet: die Folgen des soziologischen Wandels in den späten 60er und frühen 70er Jahren. Die Menschen, die in dieser Zeit sozialisiert wurden, stellen auch neue Anforderungen an ein entsprechendes Leben im Alter.

Stairway To Heaven

Stairway To Heaven

Ein eher unscheinbares Gebäude im nördlichen Essener Stadtteil Dellwig. Obwohl erst in 2009 erbaut, erinnert die Fassade mit ihrem Backsteinstil und den rostroten, etwas blinden Sprossenfenstern eher an eine Mietskaserne in Berlin-Kreuzberg. Dieses Haus ist kein gewöhnliches Haus, sondern das erste Pflegeheim, das sich auf einen Generationenwechsel eingestellt hat. So wie Helmuth G., der damals fleißig bei der Aktion Roter Punkt gegen die Essener Verkehrs-AG dabei war, der seine Jugend in der eher berüchtigten als bekannten Kneipe „Podium“ verbrachte, geht es vielen heutigen Rentnern. Helmuth G. hat in seinem Leben noch nie eine Musikantenstadel-Sendung gesehen und kennt WDR4 nur vom Hörensagen. Ihm graute es davor, trotz privater Pflegevorsorge und sparsamen Lebensstandards irgendwann in einem Pflegeheim heutiger Couleur zu enden. Er fand im Alter, geringfügig pflegebedürftig, eine neue Heimat in diesem Haus. „Echt voll geil hier, Du.“ ist sein zufriedenes Urteil.

Robert Pflanz ist Geschäftsführer der »Seniorenresidenz Stairway To Heaven« hoch im Essener Norden. Er erläutert das Konzept dieser Einrichtung so: „Wir müssen uns in naher Zeit auf einen Wechsel unserer typischen Bewohner einstellen. Wenn die Leute in den Pflegebereich einziehen, die mit Led Zepplin und den 68er-Aktionen groß geworden sind, finden die herkömmlichen Pflegeeinrichtungen bei diesen Menschen kein Interesse mehr.“ Auf diese neuen, aktuellen Bedürfnisse geht das Haus ein. Im Keller der Anlage stehen den Bewohnern barrierefrei zahlreiche Proberäume zur Verfügung, ein kleines Studio mit Parkplätzen für Rollatoren ist ebenso vorhanden. Statt der üblichen Cafeteria im Erdgeschoss befindet sich dort die Kneipe »Titty Twister«, in der an jedem Samstag Live-Acts stattfinden. Blues- und Rock-Bands bilden den Standard, für das dreijährige Jubiläum im Juli 2013 ist ein Auftritt von Guru Guru oder Ton, Steine, Scherben geplant. Keine Mühen wurden gescheut, das originale Interieur im 150 Jahre alten Pub »The White Horse« im südenglischen Dover ab- und hier in diesem Unterbezirk von Essen-Borbeck wieder aufzubauen. Natürlich sind dort Guinness, Kilkenny und Jack Daniels genau so im Angebot wie der beliebte Van Nelle Zware und die kaum noch bekannten niederländischen Zigaretten der Marke Black Beauty. Hier wird Service groß geschrieben, gerade für die nächste Generation, die mit den Vorlieben ihrer Eltern und Großeltern so gar nichts mehr anfangen kann. „Die Menschen möchten in ihrem wohl verdienten Ruhestand zu ihren vertrauten Wurzeln zurückkehren, nicht umgepflanzt werden in eine sterile Wohnanlage.“, weiß der Geschäftführer.

Für das Jahr 2020 ist eine zusätzliche Einrichtung am Südufer des Baldeneysees geplant, am Rande von Werden. Im »House Of tl;dr“ verfügt jedes Zimmer über einen 500 MBit-Netzzugang, ist mit einem 17-Zoll-Tablet, einem Android-Senioren-Smartphone, einem Quadcore-Rechner mit 64 Gigabyte Speicher, Lupe und LCD-Projektor ausgestattet. Ein 5 Petabyte-Speichersubsystem im Rechenzentrum der Residenz steht allen Bewohnern kostenfrei zur Verfügung und ist über Glasfaserleitungen an die Zimmer angebunden. Die SysAdmins arbeiten in drei Schichten rund um die Uhr und sind ständig erreichbar. Die hauseigene  Einrichtung »Eat & Never Meet« liefert 24 Stunden lang an sieben Tagen der Woche Pizza, Kaffee und Cola direkt aufs Zimmer. Optional gibt es eine Sushi-Flatrate. „Hier sind wir der Zeit etwas voraus, doch wir sind sicher, dass schon in einigen Jahren der Bedarf an solchen Altenwohnheimen mit flexibler Betreuung, vom betreuten Wohnen bis zur Vollzeitpflege mit einer eigenen Schreibkraft, seinen deutlichen Markt finden wird.“, erklärt Robert Pflanz.

Helmuth G. geht in die liebevoll eingerichtete Kantine mit den abgeschabten alten Barhockern und den Hausbesetzer-Glühlampen an der Decke. Das ausgewogene und abwechslungsreiche Angebot, heute Käse-Brötchen oder Döner von gestern, dazu ein lecker Frankenheim, findet immer mehr Anklang. Danach ein Mittagsschläfchen, einen doppelten Espresso und heute Abend geht es mit der hauseigenen Fahrbereitschaft auf Schalke. Helmuth G. war ein Vorreiter, doch das Haus füllt sich nun zunehmend mit Menschen seines Schlages. Ein Konzept, das offensichtlich Anklang gefunden hat und dem seine große Zukunft noch bevor steht. So sieht es auch Robert Pflanz. Und eilt in die Kneipe, am nächsten Samstag sind Man im »Titty Twister«, da muss die Bühne glänzen.

Die Globalisierung begann in der Wirtschaft, nun schwappt sie auch ins Privatleben. Die Anzahl an Fernbeziehungen nimmt zu, in Zügen und Flugzeugen viele Menschen auf dem Weg zur Beziehung oder zurück zur Arbeitsstelle. Doch wie bei der gelobten Mobilität im Job stellt sich in der Fernbeziehung die Frage, wie es den Menschen dabei geht.

(Namen wurden aus Personenschutzgründen geändert)

Bleib!

Bleib!

Die Autobahn A2, eine endlose Kette von LKWs aus Litauen, Polen oder sogar aus dem fernen Russland, von Oberhausen bis Berlin. Längere Fahrten auf ihr eine Mischung aus Stress und aufkommendem Fernweh. Wie an jedem Freitag fährt Raimund von Nordrheinwestfalen nach Niedersachsen. Weil Pferde und Katzen nicht allein bleiben können, und weil Ilka ein großes Haus mit Garten hat. Die Ausfahrten kennt er inzwischen auswendig. Am steilen Berg vor Lauenau ist Vorsicht geboten, LKWs scheren unerwartet aus, genau an dieser Stelle passieren viele Unfälle. Bisher ist er glimpflich davon gekommen, dank ABS und Routine. Im Sommer eine schöne Strecke, sie geht durch das hügelige, grüne Weserbergland, im Winter bei Dunkelheit, Nebel und Regen werden aus den knapp 200 Kilometern gefühlte 500. Am Sonntagabend schafft er die Strecke schon mal in 90 Minuten, am Freitagnachmittag können es mit Baustellen sogar drei Stunden werden. Am Freitagnachmittag treibt ihn die Aussicht auf ein gemeinsames Wochenende, am Sonntagabend auf dem Weg zurück bleibt ein Gefühl der Unruhe und Unzufriedenheit, wenn der Job ihn wieder in das leere 30-Quadratmeter-Apartment zwingt. Gesund fühlt sich das nicht an.

Schätzungen gehen davon aus, dass jede achte Partnerschaft „auf Distanz“ gelebt wird. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung spricht in einer gerade erschienen Studie von 13,4% der Paare, die entfernt zusammen leben. Die tatsächliche Zahl dürfte um ein Vielfaches höher liegen, wenn man diejenigen Paare berücksichtigt, bei denen ein Partner beruflich bedingt in den entfernten Zeiten in Hotels wohnt. So geht man im Schnitt davon aus, dass Akademiker im Laufe ihres Berufslebens bis zu 25% der Zeit in einer Fern- bzw. Wochenendbeziehung leben.

Barbara und Elo haben sich wie Raimund und Ilka übers Internet kennengelernt. An jedem Wochenende pendelt Barbara drei Stunden mit der Bahn von Düsseldorf nach Ratzeburg und wieder zurück. Auch hier ist es das malerisch in der Nähe des Ratzeburger Sees gelegene Haus, ein Traum für jeden, der sonst in Düsseldorf jeden Tag schon den Kampf um einen Parkplatz neu durchstehen muss. Während für Raimund die Fahrt anstrengend und nervenraubend ist, hat Barbara als freiberufliche Sozialpädagogin Schwierigkeiten, sich die sechs Stunden Fahrt von ihrem engen Zeitplan abzuknapsen. Wie für das Paar aus Niedersachen und Ostwestfalen ist es der ständige Wechsel zwischen Nähe und Distanz, der immer wiederkehrende Abschied, das Abbrechen von bisherigen sozialen Beziehungen und die Phasen des Zweifels und der Einsamkeit, die schon mal das Gefühl mit sich bringen, die Orientierung verloren zu haben.

Globalisierung, Mobilität und Flexibilität sind die Schlagworte der modernen Gesellschaft. Nicht nur der Beruf fordert, dass man heute hier und morgen dort arbeitet. Auch das Privatleben wird zunehmend globalisiert. Das Partnersuche-Portal Parship sieht den Anteil Paare, die sich über das Internet finden, nahe bei der 10%-Marke. Dass diese Menschen nicht in der gleichen Stadt wohnen, ist quasi vorprogrammiert, man verliebt sich nicht, weil man den gleichen Wohnort hat. Erst jetzt erforschen Wissenschaftler, wie an der Universität Mannheim, welche psychosozialen Folgen der Verlust eines eindeutigen Lebenszentrums und einer konstanten Beziehung haben. Dass Fernbeziehungen viel häufiger scheitern als konventionelle, nämlich zu 65%, haben sie schon belegt.

Was die Arbeitswelt aufgezwungen hat, findet so Eingang in das Privatleben: thematische, räumliche und seelische Mobilität wird zur täglichen Anforderung, auch jenseits der Fünfzig. Die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit, wie sie für Generationen in den Wohnorten und sozialen Umgebungen noch normal war, ist Vergangenheit. Doch die Flexibilität, die die Wirtschaft von den Menschen einfordert, bietet sie ihnen im Gegenzug nicht.

Im März 2012 hat Barbara den nicht leichten Weg gewählt und ist zu Elo in den Norden gezogen. Ihren Kundenstamm im öffentlichen Sozialbereich muss sie mühsam neu aufbauen. Raimund sucht seit Monaten einen neuen Job in der jetzigen Heimat. Bisher vergeblich.

Was dem Einen seine Volksmusik, ist dem Anderen Death Metal oder Punk. Dann wären da noch die Freunde der Klassik und die Anhänger des Irish Folk, gerade die Deutschen scheinen ein Volk zu sein, das Schubladen braucht. Auch und gerade in der Musik. Doch gibt es Musiker, die in vielen Lagern Zuspruch erhalten, weil sie eben keine Schublade bedienen und zwischen diesen Welten wandern. Einer dieser Ausnahmemusiker ist der norwegische Saxophonist Jan Garbarek. Und der war am 11. Oktober 2012 wieder in der kleinen Großstadt an der Pader zu sehen und zu hören.

Jan Gabarek Band

Jan Gabarek Band

Meistens im Herbst erwartet man ihn. Er kommt leider nicht regelmäßig, manchmal wartet man mehrere Jahre. Und dann kommt er nicht im Herbst, sondern im späten Winter. Nein, nicht von einem jahreszeitlichen Sturm ist die Rede, sondern vom norwegischen Saxophonisten Jan Garbarek. Am 11. Oktober 2012 war es wieder so weit. Die Jan Garbarek Band in der Paderhalle.

Hängen die ersten Plakate, ist nicht mehr viel Zeit für den Besuch des Vorverkaufs, oft sind in kurzer Zeit seine Konzerte ausverkauft. Sie sind in Paderborn eine Institution geworden, wie das Volksfest Libori oder das Schützenfest. Dass Jan Garbarek so regelmäßig in dieser Stadt in Ostwestfalen auftritt, hat wohl mehrere Gründe. Einer ist sicherlich, dass das Jazz-Publikum hier ihn hör- und spürbar schätzt, weil er die Mentalität dieser schon irgendwie norddeutschen Gegend so trifft wie wenige andere. Der Tenor-Saxophonist, der den nordischen Jazz wie kaum jemand sonst populär machte, ihn in gewisser Weise repräsentiert. Als typischer Nordeuropäer hat sich Garbarek dann in den 70er Jahren sein Image erworben: kühl, kontrolliert, beinahe distanziert. Doch dieser Abend sollte zeigen, dass das Bild angepasst werden muss.

Der amerikanische Musiker und Komponist George Russell bezeichnete Garbarek als „Das größte Jazzmusik-Talent, das Europa nach Django Reinhardt hervorgebracht hat.“ Geboren am 4. März 1947 in Mysen in Norwegen, begann er mit 14 Jahren Saxophon zu spielen und gehört neben Terje Rypdal, Arild Andersen und John Christensen nun schon seit vielen Jahren zu den Big Four der norwegischen Jazz-Szene.

Der Abend des 11. Oktober, es ist noch nicht richtig Herbst, klar und trocken,  nordisches Wetter. Ein stetiger Strom von Besucher verschwindet ruhig hinter den Türen der Paderhalle, im Foyer sammelt sich ein Publikum, das man am besten als gehobenes, liberales Bürgertum bezeichnen kann. Viele Leute jenseits der 50, wenige nahe der 30 Jahre. Die von Beton und wenig Holz geprägte kühle Atmosphäre will wohl so etwas wie einen Vorgeschmack der Musik Jan Garbareks geben. Ebenso der große Saal mit seinen fast 1000 Plätzen, die spärliche Bühnenausstattung mit einem großen Tuch im Hintergrund, das nur zwischen den Stücken die Farbe wechselt. Ausverkauft ist das Konzert dieses Mal nicht, aber sehr gut besucht. Das übliche Gemurmel vor Konzertbeginn, doch es ist nur leise, es trägt Vorfreude und Spannung auf die derzeitige Band von Garbarek. Weil man bei Jan Garbarek nie weiß, was einen nun erwartet.

Auf der aktuellen Tournee ist er mit seinem langjährigen Begleiter am Piano, Rainer Brüninghaus, dem Inder Trilok Gurtu an den Percussions und dem Brasilianer Yuri Daniel am Bass unterwegs. „Die menschliche Stimme ist mein Ideal“, sagt Jan Garbarek und es gibt wohl kaum einen Saxophonisten, der diesem Ideal so nahe gekommen ist. Ulrich Greiner schreibt über ihn in der ‚Zeit‘: „Die Utopie des unendlichen Atems und des natürlichen Wohlklangs treibt Garbareks Musik an, sie schwitzt nicht, sie ist heiter im Sinn des Worts, das vom griechischen Aither kommt und klarer Himmel, reine Luft bedeutet.“

Es ist kurz nach acht. Die Band beginnt mit einigen älteren Stücken von Garbareks Alben »Belonging« und »Places«. In dieser Besetzung gerät man schnell in die Gefahr wie die Fusionband Weather Report zu klingen. Doch nicht bei dieser Band, Garbareks Stimme und Ausdruck an diesem Instrument sind unverwechselbar, Rainer Brüninghaus ist ein exzellenter, aber genauso eigenwilliger Pianist in allen Stilen. Yuri Daniel spielt einen bundlosen elektrischen Fünfsaiter, zurückhaltend, sanft, sich nie in den Vordergrund spielend. Trilok Gurtu spielt Schlagzeug, indische Tablas, südamerikanische Congas und alles, was an Percussion verfügbar ist. Nach den eher klassischen Stücken Übergang zu moderneren Kompositionen. Und es kommt genau das, was so einmalig bei Garbarek ist: die Vier schöpfen aus allen musikalischen Stilen, vom klassischen Jazz über den Cool Jazz bis hin zu Melodien und Klängen aus dem Mainstream, Pop und Rock. Stetiger Wechsel der Solisten, Dialoge zwischen Bass und Saxophon, Piano und Bass, Schlagzeug und Saxophon. Brüninghaus und Gurtu liefern sich sogar einen Dialog zwischen Percussion und Piano, witzig, augenzwinkernd, mit einer Spielfreude, die man selten auf Jazzbühnen sieht. Dazwischen ein lächelnder, manchmal witzelnder Jan Garbarek.

Doch der große Teil des Abends gehört den anderen, Jan Garbarek zieht sich immer wieder zurück, überlässt seinen drei Mitmusikern das Feld. Bass- und Schlagzeug-Solos, in der populären Musik fast verschwunden, feiern hier ihre Rückkehr. In einem Moment noch sphärische, schwebende Klänge vom Saxophon und breite Klangteppiche vom Keyboard, dann wieder Rückkehr zu Sounds, die man eher im Hardrock erwartet. Es grooved, es stampft, es rockt. Dann wieder nur der Flügel, an dem sich Rainer Brüninghaus von der Neoklassik a’la George Winston über den Ragtime bis in den Freejazz arbeitet. Ständig ändern sich die Atmosphäre und der Klang, mal Solos, mal Duetts, dann wieder die komplette Band, doch immer passt es, immer ist es stimmig. Und alles ist erlaubt, auch Anleihen beim Pop und Synthesizer-Sounds. Das ist der Jan Garbarek, den sein Publikum liebt. Ständig präsent, aber nie vordergründig. Ständige Veränderung, aber immer er selbst. Und mit einer Stimme, die unverwechselbar und einmalig ist.

Gegen Ende gehört dem Inder Trilok Gurtu noch einmal allein die Bühne. Er beginnt mit einem Schlagzeug-Solo, geht über auf Tablas und Congas, legt einen Scat-Gesang darüber, es folgt eine Reise durch die Welt der Percussion, zu der bei ihm auch ein mit Wasser gefüllter Blecheimer gehört. Am Ende steigt Garbarek mit einer Obertonflöte ein und Garbarek und Gurtu beenden die Einlage mit einem furiosen Duo für Percussion und Flöte.

Nach weit über zwei Stunden Reise durch die Möglichkeiten, was Jazz  auch sein kann, endet der Auftritt mit Standing Ovations und zwei Zugaben, die letzte schon unter Saalbeleuchtung. Vier großartige Musiker, zusammen wohl 100 Jahre Jazz-Erfahrung und dazu schier unglaubliches musikalisches und technisches Können.

Eintritt erwünscht

Eintritt erwünscht

Hier ein Lächeln auf den Gesichtern der Zuschauer,  dort aber manchmal auch ein Grinsen. Weil diese Musiker sich selbst nicht immer ernst nehmen, sich nicht in den Olymp setzen, sondern auf dem Boden der musikalischen Realität bleiben. Und was macht die Jan Garbarek Band so einmalig? Dass sie sich aus allen Schubladen bedient und am Ende in keine mehr hinein passt. Und damit Freunde aus allen Schubladen findet.

Aktuelle Arbeiten an einer Reportage riefen mir eine Geschichte wieder in Erinnerung, die schon in den Analen der Geschichte versunken schien. Es muss 1972 gewesen sein, das 2. Internationale Jazz-Festival in Moers. Die Stadt war überlaufen, Unterkünfte kaum zu bekommen, und alle Restaurants und Kneipen hoffnungslos überfüllt. Wir schliefen auf dem Dachboden einer Schule, wo wir durch Glück und Zufall gelandet waren, unter diesen Bedingungen fast eine luxuriöse Bleibe. Und lustig war es dazu, denn bis zum Abend hatte sich der Dachboden mit einer gut gelaunten Gemeinde gefüllt. Wir hatten da diesen Wettbewerb, wer im Schlafsack hoppelnd am schnellsten von einer Ecke des Bodens zur anderen kam. Ok, da muss auch eine Menge Bier im Spiel gewesen sein.

Jan Gabarek

Jan Gabarek

Was jedoch nicht gegen den Hunger half. Unser Trupp spaltete sich auf, weil für zwei oder drei Leute eher etwas zu finden war als für ein herum streunendes Dutzend. Doch es schien aussichtslos. Eher aus der Not heraus erkundigten wir uns in einem jugoslawischen Restaurant. Alle Tische voll besetzt. Bis auf einen einzigen, an dem zwei Männer saßen. Als ich den Tisch näher inspizierte, wollte ich wieder gehen. Doch mein Freund Helmuth, für den Zurückhaltung kein sonderlich bekanntes Wort war, schleppte mich zu diesem Tisch zurück, fragte kurz, ob die beiden Plätze noch frei wären und bekam ein positives Signal. Wir setzten uns, ich mit einem etwas mulmigen Gefühl. Das war der Abend, als ich mit dem Posaunisten Albert Mangelsdorff und dem norwegischen Saxophonisten Jan Gabarek, zwei ganz großen Namen im Jazz, zu Abend aß.

Helmuth in seiner jungenhaften und freundlichen Art redete sofort los. Und es entstand schnell ein Gespräch. Was mir aber am meisten im Gedächtnis blieb, war nicht die freundliche, offene und feingeistige Art von Albert Mangelsdorff, sondern Jan Gabarek. Wie er mit der Nase über seinem Teller hing, das Essen nur mit der Gabel in unfassbarer Geschwindigkeit in sich hinein schaufelte und dabei kein einziges Wort sprach. Kaum war er fertig, warf er die Serviette auf den Teller, nickte Mangelsdorff kurz zu, sprang auf und verschwand. Wir sprachen noch eine ganze Weile, dann rief Mangelsdorff den Kellner, bezahlte, verabschiedete sich höflichst und ging. Ein denkwürdiger Abend.

Was ich damals partout nicht verstehen konnte, war die Tatsache, dass ein Mensch wie Jan Gabarek auf der Bühne eine so unglaublich emotionale und tiefgehende Musik machte, aber am Restauranttisch eine sehenswert proletenhafte Vorstellung ablieferte. Ich war noch zu jung um zu wissen und zu verstehen, dass Menschen so viele unterschiedliche Facetten haben können. Und dass das Eine nichts mit dem Anderen zu tun haben muss. Dass Mr Jekyll und Mr Hide keine Erfindungen sind, sondern wir alle diese Seiten haben.

Es sind diese Geschichten, die letzten Endes unsere Sicht der Welt prägen und die nicht umsonst so verhaftet sind. Und so ein grauer Kopp hat eine Menge solche Geschichten auf Lager. Am 11. Oktober sehe und höre ich Jan Gabarek wieder. Nur so nahe wie 1972 werde ich ihm nicht mehr kommen. Und doch habe ich das Gefühl, ich kenne ihn ein ganz klein wenig mehr als die anderen Besucher. Ich sage nur: Zigeunerspieß.

Benzinpreis und Rohölpreis

Benzinpreis und Rohölpreis

Wenn man an beliebiger Stelle zu beliebiger Zeit über die Benzinpreise diskutiert, sind die Antworten der Ölmultis immer gleich und immer klar: es ist der Ölpreis, der den Benzinpreis bestimmt. Sieht man bei den Rohölhändlern nach, zum Beispiel bei Tecson, so stellt man fest, dass im Juni der Preis einen Tiefstand bei ca. 90 US$ pro Barrel hatte, im Moment liegt er bei 110 US$, das ist eine Schwankung von ca. 22%. Ich kann mich erinnern, dass ich im Juni zum Teil noch Diesel für 1,30 Euro getankt habe, gestern lag er bei 1,57 Euro. Ok, da sind die 22%. Was aber nicht erklärt, warum der Spritpreis hin- und herspringt, denn laut Statistiken verläuft die Rohölpreis-Kurve in dieser Zeit ziemlich linear aufsteigend. Heute Diesel 1,40, morgen 1,50, übermorgen 1,42 Euro. Das kann wohl kaum etwas mit dem Rohölpreis zu tun haben. Und Moment mal, der Ausgangsstoff Öl macht ja keine 30% des Benzinpreises aus. Demnach müsste eine Steigen des Rohölpreises um 20% nur ein Steigen des Benzinpreises um ca. 6% bewirken. Der Tankstellenpächter bekommt immer den gleichen Anteil, ein bis anderthalb Eurocent. Also sind Ölmultis und der Staat die großen Gewinner. Da reicht ein Taschenrechner zu 2 Euro, um diese Lüge nachzuweisen.

Bevorratungssteuer ist auch im Benzinpreis enthalten? Dann stellen wir doch dem Staat in Rechnung, dass wir Perso, Führerschein und sonstigen Kram immer dabei haben müssen. Sind vielleicht gar nicht die Ölmultis so böse, sondern ein Staat, der uns aus der Tasche zieht was nur eben geht?

Dann wundert man sich, in Hannover bei Aral Diesel für 1,48 den Liter getankt zu haben, und eine Stunde später in Paderborn kostet er bei Shell 1,57. Ist der Rohölpreis in Hannover ein anderer als in Paderborn? Nein, denn auch in Paderborn findet man auf wenigen Kilometern Strecke den Diesel bei 1,50 Euro bei einer Freien, 1,57 Euro bei Shell. Das sind der Wettbewerb und regionale Unterschiede, singen die Ölmultis im Chor. Aha, dann macht Shell seinen Sprit so teuer, damit sie mehr davon verkaufen. Zwischen den beiden Preisen liegen gut zwei Kilometer.

Nun aber gar nicht mehr zu verstehen: zwei Wochen Urlaub in Wales und der Benzinpreis schwankt in dieser Zeit nicht mal um einen einzigen Penny. Schon gibt es ein oder drei Pence Unterschied zwischen Caernarfon und Chester. Aber keine solchen Schwankungen von Tankstelle zu Tankstelle oder Tag zu Tag wie in Deutschland. Ach ja, ein Liter Diesel in UK kostet so 1,35 Pfund. Das ist nicht viel mehr als in Deutschland und Diesel ist dort nicht steuerbegünstigt. Super kostet nämlich das Gleiche, umgerechnet ca. 1,60 Euro. Wo doch die Lebenshaltungskosten in Großbritannien im Mittel um 25%  höher sind als in Deutschland. Das verwirrt dann doch alles sehr.

Vielleicht helfen andere Beobachtungen. In Großbritannien kann man sich DSL von dem einen Anbieter, Festnetz von einem Anderen und Handy vom dritten holen. Die erzwungene Paketbildung wie bei uns ist unbekannt. Kann man haben, muss man aber nicht. DSL kostet dort pro Monat ca. 4 Pfund, bei Vodafone, nicht einem Exoten. Unlimitiert, in den Großstädten bis 50.000er. Ist nur UK? Der Preis einer Prepaidkarte fürs Handy in Österreich treibt einem die Tränen in die Augen. Weil er so niedrig ist, für das, was man damit telefonieren kann. In Belgien kostet ein Päckchen Tabak 4,40 Euro. Mit 50 Gramm, nicht 40 wie in Deutschland. Zurück nach UK. Das Nutella ist dort inzwischen billiger als bei uns. Das war nicht immer so, Nutella ist dort eine Spezialität, aber heute ist der Preis eben dieser.

Tatsche ist, dass die Anbieter und Hersteller in Deutschland eine unverschämte Hochpreispolitik betreiben, der deutsche Kunde wird ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Sei es Benzin, Telefon oder Nutella. Bleiben wir beim Benzin in UK als Aufhänger, nach den Steuersätzen auf der Insel und den realen Einkommen müsste das Benzin mindestens 20 oder 30 Pence teurer sein. Und wenn die Schwankungen des Benzinpreises auf das Rohöl zurück zu führen sind, warum dann nicht in Großbritannien?

Weil die Preisbildung im deutschen Markt schon lange nicht mehr auf den Gesetzen von Angebot und Nachfrage beruht, sondern auf der harmonisierten Abzocke einiger weniger Anbietergruppen. Und je weniger Deutsche zum Urlaub mal etwas weiter weg fahren, desto weniger wird das sichtbar. Noch die Explosion des Milchpreises im Sommer 2007 im Gedächtnis, als selbst bei den Discountern ein Pfund Butter fast 1,50 Euro kostete, weil nach Aussage der Milchindustrie angeblich die Chinesen alles Milchpulver aufkauften? In den Niederlanden kostete in diesen Tagen ein Pfund holländische Markenbutter in einem kleinen Spar-Markt einer Touristenhochburg … 85 Eurocent.

Gut besucht sind die Kirchen nur noch am Heiligabend. Doch dieser Trend herrscht nicht überall vor, es hängt davon ab, wer die Kirche repräsentiert. Wie Pfarrer Oliver Peters es tut.

Ein dunkler Adventsabend in Paderborn, die Straßen sind unter einer dicken Schneedecke verschwunden und es schneit weiter. Kein Wetter, bei dem man das Haus gerne verlässt. Trotzdem ist die Christus-Kirche im Ortsteil Schloss Neuhaus gut besucht. An den vier Sonntagabenden vor Weihnachten gibt es in dieser Kirche Adventsandachten, eine halbe Stunde lang, ohne Orgel und Liturgie, dafür mit etwas Klaviermusik oder Klängen von der Veeh-Harfe. Alles künstliche Licht ist gelöscht und nur Kerzen auf dem Altar und Topfkerzen in den Händen der Besucher tauchen die moderne und schlichte Kirche in ein warmes, heimeliges Licht. Ein Moment zum Innehalten im Trubel der Weihnachtsvorbereitungen.

Pfarrer Oliver Peters meditiert zu Bildern, die Themen dieser Jahreszeit darstellen. Seine ruhige und warme Stimme füllt den Raum, etwas ist anders als in anderen Kirchen. Denn er spricht eine Sprache, wie sie auch die Besucher sprechen, es ist eine lebendige Sprache, er spricht über das Leben, über Sorgen und Nöte, aber auch über Freude und Hoffnung. Seine Worte erreichen die Menschen, sie sind verständlich und betreffen das Leben, hier gibt es keine Barriere zwischen Pfarrer und Gemeinde. Einige Minuten in der Andacht sind für Stille und eigene Worte an Gott reserviert. Wie bekommt Oliver Peters die Menschen in die Andachten, und auch in die Gottesdienste, eher gegen den Trend?

Oliver Peters mit einem Modell des Kolumbariums

Oliver Peters mit einem Modell des Kolumbariums

Zur Theologie kam Oliver Peters über Umwege. 1968 im sauerländischen Hemer geboren, plante er zuerst ein Studium der Medizin. Doch der wenig auf den Menschen ausgerichtete Medizinbetrieb, den er während seines Zivildienstes in der Paracelsus-Klinik kennenlernte, ließ ihn umdenken. Zu wenig war vom Menschen die Rede, stattdessen von „der Galle“ oder „der Hüfte“, sagt er. Sein späterer Schwiegervater, selbst Pfarrer, brachte ihn zur Theologie, weil nur dort der Mensch in seiner Einheit von Leib und Seele gesehen wird. Dies war die Sichtweise, die Oliver Peters leben wollte, mit der Kirche war er eh durch Chor und musikalische Arbeit verbunden. So studierte er von 1989 bis 1996 evangelische Theologie in Bielefeld-Bethel, Göttingen und Heidelberg. Nach dem Vikariat in Hagen-Dahl und Schwerte kam er 2001 als Pfarrer im Entsendungsdienst in die Kirchengemeinde Schloss Neuhaus. Seit März 2006 ist er dort Pfarrer der 1. Pfarrstelle und wohnt mit seiner Frau und seinen drei Kindern im Pfarrhaus nahe der Kirche. Er bescheinigt sich selbst einen »Helferinstinkt«, in diesem Sinne ist er sich auch im Wechsel von der Medizin zur Theologie treu geblieben.

Würde man Oliver Peters außerhalb seiner Tätigkeit als Seelsorger kennenlernen, würde man nicht sofort in ihm einen Geistlichen erkennen. Seine Bodenständigkeit, seine unprätentiöse, humorvolle, manchmal fast burschikose Art erwartet man so nicht unbedingt von einem Pfarrer, er entspricht nicht dem stereotypen Bild. Als ein Konfirmand nach dem Gottesdienst durch eine Seitentür der Kirche zurück ins Gemeindehaus geht und etwas erschreckt „Oh Gott!“ murmelt, weil er Oliver Peters nicht hinter der geöffneten Tür erwartet hatte, lächelt Oliver Peters ihn an und entgegnet „Pfarrer Peters reicht.“

Seine Aktivitäten in der Gemeinde sind vielfältig. Neben den üblichen Pflichten und Zuständigkeiten eines Pfarrers ist da das Projekt Kolumbarium, eine Urnengrabstätte, das anstatt des 2008 wegen Bauschäden abgerissenen Glockenturms gebaut werden soll. Er engagiert sich in der Ökumene und in der Partnerschaft mit anderen Gemeinden, auch außerhalb Deutschlands. Er ist Familiare der Klostergemeinschaft Amelungsborn, als Laienmitglied der Ordensgemeinschaft, der außerhalb des Klosters „in der Welt“ ist. Das Bild vom gemütlich in seinem Gemeindehaus sitzenden Pfarrer passt nicht zu ihm, der Beruf des Pfarrers hat auch viel mit dem eines Managers zu tun. Er gilt als Arbeitstier, ist oft bis spät abends unterwegs, engagiert, immer ansprechbar. Doch was eben am meisten heraus sticht, ist seine direkte Wirkung in der Kirche, wie er Gemeinde zusammen hält und wie es ihm ein Anliegen ist, den Leuten einen Grund zu geben am Sonntag in die Kirche zu kommen.

Was macht er anders, wo ist er anders und füllt selbst an unwirtlichen Abenden mit den Adventsandachten diese Kirche? Zum Einen spürt man, dass er hinter dem Wort steht, das er verkündet, und, ganz wesentlich, dass er Gottesdienst nicht als Verwaltungsakt sieht. Er sagt darüber: „Der Gottesdienst ist mir schon immer nahe gewesen.“ und „Er darf kein liturgischer Akt sein, sondern muss mit Leben gefüllt werden, authentisch sein. Er darf eine Form haben, einen Rahmen, in dem man sich lebendig entfalten kann.“ Und er füllt diesen Rahmen mit Leben, mit Bühnenbildern, die mit den Konfirmanden gestaltet werden, und zur Verbildlichung von Themen kann auch mal ein Blumentopf bewusst auf dem Boden der Kirche in die Brüche gehen. Zum Anderen erlebt man, dass er nicht die Gemeinde, sondern die Menschen vor sich anspricht. Oder wie es ein Gemeindemitglied formuliert: „Er verkündet keine theologischen Weisheiten und kirchlichen Richtlinien, sondern übersetzt Kirche für die Menschen vor ihm.“ Er verwirklicht eine Kirche im Leben der Menschen, nicht neben ihrem Leben.

Doch seine lebendige und an der Lebenswirklichkeit orientierte Gestaltung des Gottesdienstes hat ihm nicht nur Freunde gemacht. Über die oft noch praktizierte klassische, distanzierte  Ausgestaltung eines Gottesdienstes sagt er: „Manche Leute sind damit groß geworden, und so möchten sie es und es soll immer so weiterlaufen.“ Doch möchte er nicht in eine hochkirchliche Ecke geschoben werden, nur weil für ihn Liturgie und Ausgestaltung von Gottesdiensten so wichtig sind, wie er selbst sagt. Aber wenn man in der Christus-Kirche Leute trifft, die in ganz anderen Stadtteilen wohnen, muss das Gründe haben. Und die sind offensichtlich: Authentizität, Humor, Glaube als Grund zur Freude, nicht das Ständige Betonen von Sünde und Vergänglichkeit, wie es andere Geistliche schon mal tun. Ein Gottesdienst für und mit den Menschen in der Gemeinde, nicht eine vorgegebene Verpflichtung. Nicht zuletzt ist es der Vorteil der evangelischen Geistlichen, mit ihren Familie mitten im Leben zu stehen. Und dieses Leben auch mit in den Gottesdienst zu nehmen. Das Leben außerhalb eines theologischen Elfenbeinturms, seine Wurzeln in der Gemeinde, seine Liebe zur Musik und zum Theater, seine Glaubwürdigkeit und Offenheit machen Kirche real.

Die gut gefüllte Kirche an diesem Adventsabend gibt ihm Recht. Würden mehr Pfarrer und Pastoren seiner Sicht folgen, kirchliche Veranstaltungen lebendig und kreativ gestalten, die Menschen direkt ansprechen, Gottesdienste nicht als Pflichtveranstaltungen betrachten, sähe es an den Sonntagmorgen in so mancher Kirche anders aus als es leider heute ist. Eine Umkehr des Trends wäre möglich.


 

 

Development 2018

Development 2018

Da berichtet der VDI in einem Report: „Die Zahl der arbeitslosen Ingenieure ist im Januar 2012 gegenüber dem Vorjahresmonat deutlich um 21 Prozent auf 19.188 Personen gesunken. Gegenüber dem Vormonat Dezember ist sie nur leicht angestiegen – normalerweise ist die Zunahme in einem Januar saisonbedingt deutlich stärker. Da gleichzeitig die Zahl der offenen Stellen leicht gestiegen ist, liegt die Ingenieurlücke fast unverändert bei 80.000. Das bedeutet einen Anstieg um 62,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat.“. Toll. Was hieße, dass man den Bedarf an Ingenieuren auf einen Schlag um fast ein Viertel senken könnte. Wenn denn nicht …

Noch mal der VDI, an anderer Stelle: „In den asiatischen Ländern mit ihren Herrscharen nachrückender junger Arbeitskräfte gehört fast jeder Arbeitnehmer mit 50plus zum alten Eisen und wird in den Ruhestand geschickt. In Deutschland sagt die Theorie, dass im Zuge des demographischen Wandels ältere Arbeitskräfte benötigt werden und die gegenseitige Befruchtung von Jung und Alt immense unternehmerische Vorteile birgt. Warum also nicht diese Vorteile so lange wie möglich nutzen? Die Theorie ist die eine Seite, die Praxis die andere. Wer als Ingenieur mit 50plus arbeitslos wird, kann ein Lied davon singen. Viele Ingenieure dieser Altersklasse haben einerseits noch zehn Berufsjahre oder mehr vor sich, sehen sich andererseits jedoch vor erheblichen Hürden, die sich neuen Beschäftigungsverhältnissen entgegenstellen.“

Da lungern in den Arbeitsämtern Tausende von Elektrotechnikern, Maschinenbauern und Informatikern herum, die alle das persönliche Pech haben, leider vor 1960 geboren zu sein. Qualifizierte und engagierte Ingenieure, die für vertretbare Gehälter, ohne verquaste Karrierevorstellungen und mit hoher sozialer Kompetenz in Betrieben mehr als wertvoll wären. Gut, vielleicht technologisch nicht mehr auf dem allerneusten Stand, aber was nutzt die angeblich durch das makabre Bologna-Modell erzeugte hochwissenschaftliche Qualifikation der jungen Generation, wenn diesen schon ein Kundengespräch, eine Präsentation oder die Leitung eines Teams den Schweiß auf die Stirn treibt? Weil es an der doch so wichtigen sozialen Kompetenz mangelt, die im großen Chor von den Personalern und Chefs herbei gebetet wird. Und für die weder in der Schule, noch im Studium Zeit geblieben ist. Unwissen seitens der Unternehmen ist das nicht, eher Dummheit. Und wie es mit sozialer Kompetenz in den Unternehmen und bei den Personalanteilungen  ist, merken die Bewerber spätestens dann, wenn sie sich bewerben: keine Eingangsbestätigung, keine Absagen, kein Kontakt, kein Danke für die Bewerbung.

Was hätten die Unternehmen gerne? Junge und hochqualifizierte Ingenieure mit mindestens zehn Jahren Berufserfahrung und einem Gehalt deutlich unter 30.000 Euro, bereit zur 60-Stundenwoche und belastbar bis zum Schlaganfall oder Tinnitus. Nur gibt es die nicht, so bescheuert ist eben niemand. Also muss mal eine Green Card, dann eine Blue Card, demnächst eine Yellow oder Pink Card her. Damit aus dem Ausland Abertausende von Fachkräften ins Land strömen und die Löcher füllen. Dass dann alle Meetings in Englisch ablaufen müssen (nicht alle Akademiker können dies automatisch), weil die Neuen kein Deutsch können, dass interkulturelle Differenzen zum Problem werden, dass die neuen Kollegen zwar hervorragende Zeugnisse mitbringen, aber nicht mal einen Nagel in die Wand bekommen, darüber kann so mancher Personalchef ein Lied singen. Man muss halt erst einmal auf die Nase fallen, bis man merkt, dass orientierungsloses Losrennen nicht immer eine Lösung ist.

Zurück bleiben deutsche oder deutschsprachische Ingenieure, die schön weiter von einem Job träumen, aber leider nach dem Geschmack der Unternehmen zu alt, wahrscheinlich zu krank und schwächlich sind, wohl schon mit 50 komplett verkalkt. Oder hat das Ganze System? Können so eine Menge Manager verschleiern, dass der Grund für das Nichtfunktionieren vieler Firmen Unfähigkeit zur Kommunikation und Planlosigkeit sind? Dass wie meistens der Fisch zuerst am Kopf stinkt? In diese Sinne ist es eine Hilfe, blödsinnige Forderungen nach Import von Fachkräften zu verbreiten, möglichst aus Asien oder Indien. Dann passt es zusammen. Diese Manager müssen vor sozial kompetenten, erfahrenen und patenten Ingenieuren über 50 Angst haben. Denn sonst könnte es passieren, dass deren Unfähigkeit offenbar wird. Lass die alten Säcke also mal lieber auf den Fluren der Arbeitsämter. Da sind sie ungefährlich. Für die tollen Manager.

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Gehört in einem Geschäft in Bezug auf Handschuhe: „Die Farbe ist jetzt total in.“ »Total« ist ein überzogenes, deplaziertes Steigerungswort, spätestens seit Goebbels überflüssig und mit völlig anderer Bedeutung belegt, »in« ist keine greifbare Qualifizierung, sondern ein leeres Modewort.

Mittagessen in einer Kindergruppe: Betreuerin: „Was möchtet Ihr trinken?“ Kind: „Kann ich Cola?“ Verben waren schon immer überschätzt. Und den Sinnunterschied der Modalverben haben selbst viele Erwachsene nicht auf dem Schirm.

„SOO muss Technik“ kann Würgereiz auslösen, nur stammt der Satz von Erwachsenen.

Nun mag man umgehend einwenden, dass es Jugendsprache schon im Altertum gab und sich schon damals die Altvorderen darüber aufgeregten. Stimmt auch, aber nimmt man eine der ausgeprägtesten Formen der Jugendsprache im Deutschen, die der Siebziger und Achtziger Jahre, und schaut sich dazu einen ihrer auffälligsten Repräsentanten an, nämlich Udo Lindenberg, so ist der Unterschied zu den oben zitierten Sprachbrocken groß. Zwar haben Jugendsprachen immer neue Begriffe und sogar Strukturen erfunden, die Grundlagen der deutschen Sprache, Grammatik und Interpunktation, wurden nicht verbogen. Jugendsprachen entstanden aus Kreativität und Einfallsreichtum, sie dienten entweder der Abgrenzung oder einfach dem Spiel, sie waren keine Sprachverstümmelungen, sie erweiterten Sprache, erschufen neue Wörter. Nicht ohne Grund hat Udo Lindenberg 2010 den Jacob-Grimm-Preis für Deutsche Sprache erhalten. Das ist eine andere Baustelle, wie auch Eva Neuland von der Uni Wuppertal schreibt: „Jugendsprache dient, so unsere Befunde, heute im besonderen Maße der Vergemeinschaftung und Identifikation innerhalb jugendlicher Gruppen und Szenen, während die Abgrenzungsfunktion zu anderen Generationen, zumindest im Bewusstsein der Jugendlichen, heute nicht mehr eine so zentrale Bedeutung hat, wie z. B. in der antiautoritären Schüler- und Studentenbewegung der 1970er-Jahre.“ Nein, „Kann ich Cola?“ ist keine Jugendsprache.

Gemeint ist die mittlerweile allgegenwärtige Verstümmelung von Sprache und die abnehmende Sprachkompetenz der letzten beiden Generationen. Dies ist keine subjektive Behauptung oder angenommene Entwicklung. Der Sprachwissenschaftler Kay Gonzales hat schon 2006 auf einer Fachtagung in Köln die erschreckend geringe Sprachkompetenz der deutschen Jugendlichen kritisiert. Die gleiche Beobachtung kam von Nina Bocksrocker von der Universität Hohenheim wie auch in Berichten der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Industrie- und Handelskammern beklagen, dass bis zu 20% der Jugendlichen nicht ausbildungsfähig sind. Wegen mangelnder Sprachkompetenz, und nicht zuletzt wegen mangelnder Sozialkompetenz. Und die Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind darin noch nicht berücksichtigt, dort ist die Lage noch katastrophaler. Dabei sollte das Internet doch angeblich die Sprachkompetenz vergrößern, nur haben das die meisten Jugendlichen nicht mitbekommen, und die in Twitter aktiven gar nicht.

Die Folgen der Sprachinkompetenz sind umfangreich in den oben genannten Untersuchungen beschrieben. Ein Mangel an Sprachkompetenz zieht einen Mangel an Handlungskompetenz und auch Sozialkompetenz nach sich. Was ich nicht ausdrücken oder beschreiben kann, kann ich auch nicht ausführen. Und weiter, was ich nicht formulieren kann, kann ich nicht verstehen, wenn es vermittelt werden soll. Mangel an Sprachkompetenz ergibt einen Mangel an Verständnisfähigkeit. Die Linie lässt sich noch weiterführen: was ich nicht sagen kann, das kann ich nicht denken. Ist der Vorrat an aktivem und passivem Wortschatz gering, ist auch die Möglichkeit zum Reflektieren stark eingeschränkt. Oder wie es der alte Wittgenstein postulierte: die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt. Den Zusammenhang zwischen Sprachinkompetenz, Verständnisinkomptenz, damit Denkinkompetenz und rechtsextremer Gesinnung zu untersuchen, wäre ein interessantes Projekt. Und würde vielleicht erklären, warum manche Leute auf Gedanken kommen, die 95% der anderen Menschen nicht nachvollziehen können. Sprache und Denken sind nicht zu trennen, das Eine gibt es nicht ohne das Andere. Ich kann nur denken, was ich sprechen kann.

Schnell kommt die Frage nach Vorbildern auf. Wo sind nun die Gralshüter der Sprache, im professionellen wie im semiprofessionellen Bereich?

Aus Wikipedia:

Johann Wolfgang von Goethe, Ölgemälde von Joseph Karl Stieler, 1828[

Johann Wolfgang von Goethe, Ölgemälde von Joseph Karl Stieler, 1828[

Was geschah am 22. März?

  • Papst Clemens V. verfügt auf dem Konzil von Vienne die Auflösung des Templerordens.
  • Der deutsche Dichter und Schriftsteller Johann Wolfgang von Goethe, einer der wichtigsten Vertreter der Weimarer Klassik, stirbt.

Der erste Satz, aus journalistischem Blickwinkel betrachtet, entspricht den Forderungen nach klarer Übermittlung der eigentlichen Nachricht. Wer hat was wann wo getan. Satz Nummer Zwei tut dies in gewisser Weise auch. Es geht um Goethe, aber bevor wir die eigentliche Nachricht vollständig haben, müssen wir uns durch 16 Wörter hangeln, bis der Nachrichtenkern kommt. Dass der gute Mann gestorben ist, nicht geboren wurde oder geheiratet hat. Dem Autor dieses Satzes kann man die Fähigkeit zum verständlichen Schreiben nicht attestieren. Weil er nicht darüber nachgedacht hat, was er schreibt? Weil dieser Mangel auf einen Mangel an Sprachkompetenz zurück zu führen ist? Das, zugegeben, ist Annahme. Aber nachgedacht hat er bestimmt nicht, was er da schreibt.

Vielleicht wird es deutlicher, geht man vom negativen zum positiven Beispiel. Jakob Augstein im Spiegel über den Solidarpakt:

Die Gemeinsamkeit: Es geht um den öffentlichen Raum. Wem er gehört. Und wer über ihn verfügt. Das ist nämlich immer seltener die Öffentlichkeit und immer häufiger das, was man den privaten Sektor nennt. Das liegt daran, dass der Öffentlichkeit, also den Vielen, das Geld ausgeht. Während die Privaten, also die Wenigen, Geld in Hülle und Fülle haben. Die Lage ist so, dass der Osten immer noch pleite ist und der Westen inzwischen auch. Der Osten kann seine eigenen Ausgaben nur zu einem knappen Drittel selbst tragen. Und von den etwa 400 NRW-Kommunen haben nur acht einen ausgeglichenen Haushalt. Kein Wunder, dass das Murren im Westen lauter wird. Und kein Wunder, dass der Osten unruhig wird. Aus dem Westen tönt es, der Solidarpakt sei „ein perverses System“ und aus dem Osten kommt es zurück „Neiddebatte“ und „Wahlkampfmanöver“. Der Streit zwischen Bürgermeistern West und Bürgermeistern Ost handelt davon, wem es am schlechtesten geht. Die Armen im Land spielen sich gegeneinander aus. Sie fangen an, sich wie die Straßenkinder gegenseitig den letzten Bissen aus den Händen zu reißen.

Der Text liest sich trotz des nicht einfachen Themas leicht. Zumindestens für den halbwegs Sprachkompetenten. Der Grund liegt darin, dass Augstein nur bei kurzen Sätzen dem Prädikat erlaubt, am Ende zu stehen. In längeren Sätzen steht das Prädikat spätestens in der Mitte, so dass der aktive Aspekt möglichst früh klar wird. Nämlich was geschieht oder was getan wird, der Kern der Satzaussage. Das ist Sprachkompetenz. Das ist die Fähigkeit, mit Sprache umzugehen, sich der Wirkung und Bedeutung von Sprache bewusst zu sein. Vielen, vor allen Dingen Jugendlichen, aber auch zahlreichen Erwachsenen, ist dies nicht vergönnt. Sprache wird immer mehr reduziert, wie Untersuchungen des Goethe-Institutes zum aktiven und passiven Wortschatz an Kindern und Jugendlichen gezeigt haben.

Nun mag man die Betrachtung von Sprachkompetenz als Korinthenkackerei oder Besserwisserei abtun, wie man es Bastian Sick als Autor der Kolumne »Zwiebelfisch« im Spiegel unterstellt. Doch die Konsequenzen des Sprachverlustes reichen viel weiter als auf den ersten Blick zu sehen. Wenn Jugendliche nicht ausbildungsfähig sind, wegen Defiziten an allen Enden, wie dann den Fachkräftemangel in unserer Wirtschaft beheben? Ganz zu schweigen von den Kosten, die entstehen für Nachqualifizierung oder Finanzierung der Arbeitslosigkeit. Wenn schon Abiturienten in die verflachten und reglementierten Bachelor-Studiengänge gehen, ohne sichere Kenntnisse von Stil und Grammatik und mit eingeschränktem Ausdrucksvermögen, wird das dem technologischen und wissenschaftlichen Rang dieses Landes nicht gut tun. Wer desöfteren Arbeiten von jungen Leuten redigiert oder korrigiert, wird diese Mängel sehen können. Doch anstatt gegenzusteuern, macht die Politik eine Kehrtwende. Verkürzung der gymnasialen Oberstufe um ein Jahr, immer engere finanzielle Grenzen für Hochschulen und Schulen, Verkürzung und Streichung hier und dort. Hinweise und Mahnungen, dass die Politik die Grundbildung aller Kinder vernachlässigt und stattdessen zu viel von Begabtenförderung faselt, gibt es genug.

Es wäre zu einfach, diese Defizite auf das Internet oder soziale Herkunft zu schieben. Sicher spielt der Aspekt der Herkunft eine Rolle für die Sprachentwicklung, offensichtlich bei Migrantenkindern. Leider trifft die immer gerne benutzte Verlagerung der Verantwortlichkeiten auf Lehrer und Erzieher die Falschen. Auch an Vorbildern fehlt es nicht, doch welcher Jugendliche liest schon »Zeit« oder »Spiegel«. Und die Sünde setzt sich fort, wo schon in der Familie Sprache verkümmert, wo nicht mehr gemeinsam gegessen und gesprochen wird, werden Kinder Sprache als Kultur kaum schätzen lernen. Es ist also nicht einfach zu wenig Schule, zu wenig Bildung und zu viel Internet. Und doch muss der Gemeinschaft, repräsentiert durch den Staat, eine erhebliche Mitschuld gegeben werden.

Die versuchte Egalisierung, der Abbau von Hürden und Chancen zugleich im herkömmlichen Hochschulstudium, das Nachbeten der schwachsinnigen Parole »Gleichheit, Gleichheit, Gleichheit« hat niemandem genutzt. Die naheliegendere Antwort statt ›immer vorwärts‹ wäre ›ein Stückchen zurück‹. Zurück zu einer nicht mit Englisch voll gepackten Grundschule, sondern zu einer Grundschule, in der Raum für Wachstum und Entwicklung statt Leistungsdruck im Vordergrund steht. Zurück zu höheren Schulformen, in denen nicht das Auswendiglernen für das Zentralabitur maßgeblich ist, sondern Möglichkeiten zur Entwicklung von Sprach- und Denkfähigkeit, Reflektion und Bewusstwerdung. Aber nein, packen wir noch mehr Randfächer in die Schulen, Chinesisch und Serbokroatisch in die Kindergärten, Linguistik und Philosophie in die Grundschulen, reduzieren wir die Schulzeit noch um ein paar Jahre und wir werden nur noch Genies züchten. Nur sprechen, vernünftig und farbig sprechen und schreiben können sie nicht. Macht nix, es gibt ja eine sehr ausgereifte Rechtschreibprüfung in Word.

Die Glosse über den deutschen Straßenverkehr unten mag als das erscheinen, was eine Glosse im Grunde ist. Eine Lästerei, ein Überziehen. Merkwürdig ist es aber, wenn  ähnliche Betrachtungen unabhängig voneinander einen Faden zu bilden scheinen, wenn Beobachtungen zusammen passen ohne dass die Beobachtenden voneinander wissen. So zum Beispiel die politischen Entwicklungen diesseits und jenseits des Atlantiks, wo Parallelen zu sehen sind. Man könnte fragen: Amerikanisiert sich die deutsche Gesellschaft? Folgt der Tea Party in den USA bald die Tee-Partei in Deutschland?

So schreibt die Welt unter Berufung auf eine Studie des internationalen Forschungsverbunds Population Europe in Berlin in einer wenige Tage zurückliegenden  Ausgabe: „Alte und Kinderlose verlieren die Bedürfnisse von Jüngeren und Familien mit Kindern aus dem Blick und achten vor allem auf ihre eigenen Interessen. Demnach ist die Zustimmung von 65-Jährigen zu Kindergelderhöhungen um 85 Prozent weniger wahrscheinlich als die von 20-Jährigen. Die Zustimmung zu flexibleren Arbeitszeiten für Eltern sinkt zwischen dem 20. und dem 65. Lebensjahr um 50 Prozent. Ältere sprechen sich hingegen stärker für Änderungen im Rentensystem zu Lasten der Jüngeren aus.“

Und sucht man weiter in Medien und Statistiken, kommen mehr Beweise und Indizien zu Tage. Sie zeigen, dass in Deutschland die Zeit der Solidarisierung über soziale Schichten und Interessengruppen hinaus dem Ende entgegen geht. Die Zeit des gemeinsamen Leidens und Hungerns nach dem zweiten Weltkrieg ist über die letzten Generationen in Vergessenheit geraten. Statt dessen hat sich ein Bild entwickelt, dass der Tüchtige, Gesegnete, ja Vorbildliche ein Selbstdarsteller sein muss, jemand der selbstzentriert und ohne wesentliche Rücksicht seinen Tag und sein Bild nach außen gestaltet. Und für den eigene Interessen das Maß aller Dinge sind. Unterstützt wird diese Annahme noch durch die Bilder in den Medien, Online wie Print. Nicht das Sein hat noch irgendeinen Wert, nur noch das Haben, weil das Haben das Außenbild bestimmt. Und nur das Außenbild qualifiziert als erfolgreich und hebt aus der scheinbar anonymen Masse heraus, die H&M, RTL und Amazon geschaffen haben. Der Konsum, der zuerst als schöne neue Welt erlebt wurde, erdrückt nun den Einzelnen und macht ihn zu Einem von Abertausenden. Ein Borg kennt keine Individualität, im Gegenteil, er darf sie zum Schutz des Kollektivs nie haben, er würde das Kollektiv zerstören.

Diese schöne neue Welt des Konsums hatte als Nebenwirkung den Verlust von Individualität. Wo schon in einer einzigen Stadt Hunderte Leute zur gleichen Zeit mit der gleichen Jacke unterwegs sind, wo Buchhandlungen mit immer neuen und immer sinnloseren Büchern gefüllt werden, und wo Dutzende Leute darüber diskutieren, ob ihr iPhone denn nun das Gelbe vom Ei ist, da ist kein Raum für Individualität. Und wo kein Raum für Individualität im herkömmlichen Sinne ist, da muss eine neue Individualität erfunden werden. Das war nicht schwer, es gab ja Vorbilder diesseits und jenseits des Atlantiks. Die neue Individualität heißt Selbstzentrierung, Selbstüberschätzung und Durchsetzen eigener Interessen auf Gedeih und Verderb. Mit der intellektuellen Definition von Individualität vor einigen Jahrzehnten hat sie nichts mehr gemeinsam, aber immer noch besser diese neue als gar keine.

Globalisierung, Konsum ohne Grenzen und der daraus resultierende Verlust von Individualität führen in eine Welt, in der nur noch die Entscheidung zwischen Fressen oder Gefressenwerden ansteht. Das ist auf den Autobahnen zu merken, bei Meinungen zum  Kindergeld und an der Aldi-Kasse. Man könnte noch Dutzende von Glossen schreiben, wenn man nur ein wenig genauer hinschaut. Nur würde einem dabei angst und bange. Weil man merkt, dass man diese Welle nicht aufhalten kann. Oder doch?

Ich kaufe meine Kleidung ab jetzt im Raiffeisen-Markt, meine Bücher im Antiquariat und die Eier beim Bauern am Ende des Dorfes. Und hoffe, dass mich der Virus der neuen Individualität verschont.

Beim Fahren auf Deutschlands Autobahnen wünscht man nicht selten, es würde schneller voran gehen. Und weniger stressig. Wie es der ADAC mit seinem Slogan gerne hätte. Ist die Autobahn noch so gut ausgebaut, zügig voran geht es selten, entspannt schon gar nicht. Zu viele Autos? Die M25, die Autobahn rund um London herum, ist vierspurig, 24 Stunden am Tag proppevoll und doch läuft der Verkehr meist flüssig. Zu viele LKWs? Auf der A2 von Oberhausen bis Berlin wären zwei Spuren für die PKWs da, trotzdem staut es sich jeden Tag auf Dutzenden von Kilometern. Nein, das Problem scheint sich woanders zu verstecken. Vielleicht im deutschen Autofahrer?

So beobachtet man oft, dass die rechte Spur bis auf Sichtweite frei ist, die mittlere gut belegt und die linke komplett voll. Das Rechtsfahrgebot auf Autobahnen scheint in Deutschland überwiegend unbekannt. Das Argument ist klar, es könnte ja ein LKW kommen, und dann muss man ja eh wieder raus. Also bleibt man in der Mitte oder gleich ganz links. Noch unerklärlicher wird es bei leichtem Schneefall oder Nebel mit Sichtweiten von 500 Metern. Sofort werden alle Lampen eingeschaltet, deren Bezeichnung mit Nebel anfängt. Man müsste eigentlich eine Sonnenbrille aufsetzen. Oder die Standardsituation, rechts LKWs mit 90 km/h, in der Mitte Autos mit 92 km/h, links die noch Schnelleren mit 97 km/h, dahinter eine Schlange von Leuten, die gerne wenigstens das vom ADAC bisher erfolgreich verhinderte Tempolimit von 130 km/h fahren würden. Das Reißverschlussverfahren an Baustellen in Deutschland: so dicht wie möglich auf seinen Vordermann auffahren.

Generationen von Fahrlehrern scheinen versagt zu haben, grundlegende Regeln, Gebote und Verbote sind unter Deutschlands Autofahren wohl unbekannt oder verdrängt. Nicht ohne Sinn, denn es zählt ja nur das eigene Vorankommen, der Rest soll sehen, wo er bleibt. Vorausschauendes Fahren, Verzicht auf Rechte zugunsten des Verkehrsflusses und Fairplay haben auf Deutschlands Autobahnen keine Existenzberechtigung. In Dänemark, Großbritannien oder in Belgien fällt auf, dass das anders geht, und gerade in diesen Ländern gilt ein Tempolimit. Sollte das irgendwie zusammen hängen? Freie Fahrt für mündige Bürger. Dabei erschreckt am meisten, dass diese mündigen Bürger unsere Bundesregierung wählen. Wo sie schon beim Verstehen von Verkehrsregeln überfordert sind.

Es soll Zeiten gegeben haben, so um Ernest Hemingway herum, da hat man sich einfach mit einer Schreibmaschine und einigen Blättern Papier hingesetzt und hat geschrieben. Erst viel später wurde das Tippex erfunden, eine Erlösung für den Seltenschreiber. Kurz nach der Erfindung des Faxgerätes kamen PCs und damit Word und Multiplan, endlich konnte man schreiben, wieder laden und sich verschreiben, konnte speichern und wieder editieren. Ja, ich sprach gerade von den seligen Zeiten mit MS-DOS und rein textlichen Oberflächen.

Programme, mit denen man nur schreibt und trotzdem die wichtigsten Parameter im Blick hat, nämlich Anzahl Zeichen mit Leerzeichen und ohne, Zeilen, Wörter, es gibt sie wieder. Programme, bei denen nichts ablenkt, wo die Konzentration nur auf dem Schreiben liegt. Drei davon seien hier vorgestellt, die ersten beiden im Grunde sehr ähnlich, das dritte ausgefeilter und trotzdem nicht verschwiegen, weil Tools wie Notepad in der Bedienung überlegen.

Q10

Q10

Q10 (http://www.baara.com/q10/) ist ein Fullscreen-Editor, der in seinem Schriftbild den Wünschen des Nutzers weitgehend angepasst werden kann. Es gibt keine Menues oder Icons, in der Info-Leiste werden die wichtigen Eigenschaften des Textes angezeigt. Die nicht wenigen Funktionen des Editors sind über Funktionstasten erreichbar. Die Tippgeräusche einer Schreibmaschine können eingeblendet werden, auch Papier- und Textfarben sind einstellbar. Sollte man die Funktionstasten vergessen haben, reicht die Taste F1 und man bekommt eine Übersicht.

WriteMonkey

WriteMonkey

WriteMonkey (http://writemonkey.com/) ist Q10 ähnlich, aber in viel weiteren Grenzen einstellbar und mit mehr Funktionen gesegnet. Das Prinzip ist das gleiche wie in Q10, es gibt nur noch einen Bildschirm ohne Kommando-Icons, Funktionen, Buttons oder Menus. Nur ein Blatt und die Schrift darauf. Auch WriteMonkey zeigt die Zahl der Buchstaben, Wörter und Zeilen an, zusätzlich können Seitensteuerungen leicht eingegeben werden, wie z. B. ein +++ für den Seitenwechsel oder >> und >>> für Einrückungen.

Notepad++

Notepad++

Wer es nicht ganz so radikal reduziert haben möchte, kann auf Notepad++ (http://notepad-plus-plus.org/) zurück greifen. Im Gegensatz zu Q10 und WM ist Notepad++ ein vollständiger Texteditor, der ursprünglich für das Edititieren von Quelltexten für Programmierer gedacht war, sich aber zum reinen Texterfassen prima eignet. So werden als Beispiel selektierte Wörter zusätzlich im gesamten Text hervor gehoben, so dass dann Häufungen von Wörtern schnell sichtbar sind.

Schön an allen drei Tools ist, dass sie Freeware und damit kostenlos zu haben sind. Alle drei zeigen die gesamte oder selektierte Zeichenzahl, Zeilen oder Absätze an, sind in Farben und Schriftarten anpassbar. Bei mir hat sich übrigens MS Consolas als Schriftart gut bewährt, ist in Windows 7 vorinstalliert und ansonsten in der Microsoft-Site kostenlos zu bekommen.

Manche Dinge, vor allen Dingen Software, kann man schön beschreiben, mit Screenshots und Workflows. Aber so richtig klar wird es erst mit einem kleinen Video, in dem man zeigt, wann man wo clickt. Und was man wo eingeben muss. Sollte doch kein Problem sein, so etwas zu machen. Ha.

Software

Also braucht man Software, zum Mitschneiden der Vorgänge auf dem Bildschirm, dann noch zum Schneiden und zum Zusammenfügen. Ein Trailer und Jingle wäre auch nicht schlecht. Screencapture-Software gibt es sogar kostenlos, für ein paar Dollar in der Vollversion, wie Jing zum Beispiel. Das geht recht gut, ist auch einfach zu handhaben. Videos schneiden kann man mit dem kostenlosen Movie Maker von Winzigweich. Besser geht es mit VideoPad. Der hat mehr Effekte und Einblendungen und kann das Ganze dann als MP4-Video exportieren, bis hin in 1080p-Auflösungen. Als Medien kann man nicht nur Videos verwenden, sondern auch Bilder, kann deren Anzeigelängen einstellen und vieles mehr. Sogar MP3s und WAVs können zusätzlich hinzugefügt werden, z.B. für Hintergrundmusik. So, damit wären Schnitt und Aufnahmen abgehakt. Wobei sich Jing und Videopad wegen des gemeinsam verwendeten MP4-Formates doch gut ergänzen.

Intro und Trailer

Fehlt noch etwas für Intro und Trailer. Auch das gestaltet sich einfach: man erstellt mit einem beliebigen Grafiktool ausreichend große Bilder, indem man mehrere Bilder mit jeweils zusätzlichen Textzeilen macht, diese nacheinander in Videopad einfügt und zwischen den Bildern Überblendungen hinterlegt. Sieht dann schon ganz brauchbar aus. Und die Bedienung von VideoPad ist sehr intuitiv, man hat, was notwendig ist, aber nicht zu viel.

Sonstige Hardware

Für die Sprachaufnahme empfiehlt sich, wie bei Webinars auch, ein ordentliches Headset mit amtlichen Mikrofon. Die Sennheiser-Modelle sind teuer, aber gut. Logitech macht auch gutes Material, für etwas angenehmere Preise. Mit einem Tischmikro würde ich nicht arbeiten, es werden zu viele Klapper- und Bewegungsgeräusche eingefangen, das Headset arbeitet da schonender. Ganz davon abgesehen, dass man ein Shure SM57 an einem PC-Audio-Eingang nur mit speziellen Adaptern und Empfindlichkeitsverlusten zum Laufen bringt. Da ist das beidseitige Headset immer die bessere Lösung.

Der wirkliche Haken

Gut, Technik an Bord, dann kann es losgehen. Software gestartet, Jing aktiviert, 3 … 2 … 1 … Record. Öh, wie wollte ich noch mal anfangen? Ach ja, und man fängt an zu erzählen. Oh, doch vergessen, den an dieser Stelle notwendigen HTTP-Server gestartet zu haben. Von vorn. 3 … 2 … 1 … Record. Verhaspelt. Dieses und jenes wichtige Detail vergessen. Zum neunten Mal das gleiche Verb verwendet. Den Faden verloren. Versprochen. 3 … 2 … 1 … Record …

So fängt man an. Und lernt Folgendes:

  • Aus dem Stehgreif erzählen mag manchmal gehen. Würde ich aber nicht mehr machen. Stattdessen lieber den Text entwerfen, mit mindestens 14pt ausdrucken und z.B. mit Tesa an eine Wand hinter dem Monitor und sonst wo in der Nähe des Monitors platzieren. Frei sprechen geht im Plenum, beim Demonstrieren am PC aber nicht gut.
  • Das Vorformulieren als Text sorgt auch dafür, dass man alle Aspekte abgedeckt hat, und Überflüssiges gestrichen. Ein solches Video sollte maximal fünf Minuten lang sein, als Faustregel.
  • Man kann ausformuliert am Text arbeiten und Wiederholungen oder unpassende Formulierungen verhindern.

Man mag einwenden, dass das Vorschreiben des Textes viel Zeit kostet. Am Ende stellt man doch fest, dass sieben Anläufe beim Aufnehmen auch nicht viel schneller waren. Und die Qualität des Textes ist eine ganz andere, wenn sie gecheckt und abgestimmt ist. Und darauf legt man doch Wert. Selbst wenn eine Aufnahme vom Ablauf her erst einmal geklappt hat, ist man Ende beim Abhören dann doch nicht zufrieden. Also lieber vorformulieren.

Was sonst noch?

Trotz des Vorformulierens sollte man den Ablauf am Monitor einige Male geübt haben. Auch aus optischen Gründen.

  • Unklare Mausbewegungen vermeiden, nicht mit dem Mauszeiger auf dem Bildschirm herumfuchteln. Die Cursor-Bewegungen sollten ruhig, linear und direkt sein. Wenn der Mauscursor auf dem Video herumrast, sieht das übel aus. Und verwirrt.
  • Daran denken, dass alles ausgesprochen wird, was getan wird, also auch Tastenbetätigungen von Cntl-C und Cntl-V oder ESC.
  • Immer erst angeben, was ich jetzt mache, nicht im Nachhinein, das kann unklar werden. Erst erklären, dann handeln.
  • Trotzdem während der Aktionen Sprechpausen einlegen. Der Fokus des Betrachters soll entweder auf der Aktion auf dem Monitor, oder auf der Sprache des Erklärers hängen. Es geht um Lernen, nicht um Unterhalten.

Die Sache sieht zuerst ziemlich trivial aus, tatsächlich ist das Anfertigen von Unterrichts-Videos gar nicht so simple. Für den Anfang ruhig das Dreifache der Zeit einplanen, die man zuerst geschätzt hat.

Trotz der Freeware-Tools kann man so schon ganz gute Video erstellen, und ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Ein Video mehr als zweitausend Worte.

Hinter dem Bild oben liegt ein kleines Beispiel, mit VideoPad gemacht. Einfach in ein paar Minuten zusammen geclickt, nur um zu zeigen, wie simpel es ist. Die Intro- und Trailer-Texte sind PNGs, mit Fireworks gemacht, das Video in der Mitte aus YouTube geklaut. Was nicht simpel ist: klar, deutlich, verständlich und exakt zu erklären. Deshalb so viel vorbereiten, vorschreiben, üben, exerzieren wie möglich. Auch die Erklärungswege auf den Prüfstand stellen, sind es klar erkennbare Workflows, bauen die Aktionen aufeinander auf? Instructional videos sind kein Kinderspiel, sie erfordern eine Menge Vorbereitung und didaktische Ausarbeitung, um in ein paar Minuten das Maximum herüberzubringen.

Manchmal bekomme ich EMails, deren Sinn und Inhalt sich mir auch nach mehrmaligem Lesen nicht erschließt. Vor einiger Zeit stellte ich einem Kollegen eine Frage, und ich bekam als Antwort etwas, was mit der Frage aus meiner Sicht nichts zu tun hatte. Also formulierte ich die Frage um und präzisierte sie, aber die Anwort war immer noch die gleiche. Würde man diese Leute nun direkt auf ihre Kommunikations-Schwierigkeiten ansprechen, wäre Unverständnis das Ergebnis. Abgesehen davon, dass dieser Hinweis wahrscheinlich als Angriff interpretiert würde. Also verkneift man sich den Hinweis.

Mit dem Schreiben hat diese Geschichte insofern zu tun, dass sie von einem wichtigen Thema für Trainer und auch Coaches handelt, der Selbstreflexion. Selbstreflexion heißt, dass man sein eigenes Handeln, auch seine Annahmen, Urteile und Prinzipien in Frage stellt, einen Schritt zurück tritt, sie betrachtet und sich fragt, ob sie sinnvoll oder zielführend sind. Ich halte dieses Vorgehen für einen Schreibenden für unverzichtbar. Aber 97% der Leute tun dies nicht, halten ihr Vorgehen und Handeln für richtig und wichtig. Ohne dass sie dafür Feedback von außerhalb bekommen. Es reicht also nicht, sich seine Texte auf Fehlerfreiheit und Logik anzusehen, sondern es lohnt sich, das Papier ein paar Zentimeter weiter weg zu halten und zwischen den Zeilen zu lesen, ob denn der meinige Weg so wirklich nur gut gemeint, aber nicht gut gemacht ist. Man könnte es auch Selbstkritik nennen, aber es ist mehr, es geht tiefer.

Das Reflexionsrad von Maturana zeigt diesen Prozess. Nur setzt dieser Prozess in unserem Fall drei Dinge voraus: die Bereitschaft und Fähigiet zur Selbstkritik, die Bereitschaft und Fähigkeit zur Veränderung und das unspezifische Gefühl, dass wir etwas besser machen könnten. Die schwierigste Hürde ist das Erkennen der Schwachpunkte, wären sie offensichtlich, wäre es leichter sie abzustellen. Aber ich denke, man findet Anhaltspunkte genug, wenn man sich den Gedanken und Eindrücken freien Lauf lässt.

  • Folgt mein Text einer logischen, temporalen und sinngemäßen Linie, gibt es einen Faden?
  • Wie ist die Struktur meiner Texte? Ist das Kriterium erfüllt, dass ein Absatz ein Gedankenende ist, oder brauche ich ihn nur, weil ich mich in Nebenkriegsschauplätze und einem Problemsee versenke?
  • Warum benutze ich Füllwörter, Unschärfen und Verallgemeinerungen? Hat es internalisierte Gründe?
  • Ist das, was ich schreibe und wie es schreibe, wirklich für jeden verständlich?
  • Kommen meine Gedanken, Ideen und Absichten klar an’s Tageslicht?
  • Halte ich den Leser durch Verbindungen, Überraschungen und Ruhepunkte wach und bei der Stange?

Sobald man nur vage das Gefühl hat, an Stellen etwas besser machen zu können, sollte man dem nachgehen. Und sich selbst der beste Freund sein und damit schonungslos. Um Dinge auch andauernd und anhaltend zu verändern.

Aber was bekommt man für diese Mühe? Eine ganze Menge.

  1. Man schreibt besser.
  2. Selbstreflexion kann neue oder andere Potenziale in uns finden.
  3. Warum ich bestimmte Dinge so tue, wird durch Selbstreflexion klar.
  4. Die Kommunikations-Fähigkeit verbessert sich, weil man sich damit gezielt auseinandersetzt.

Ein Buchvorschlag gefällig? „Coaching und ergebnisorientierte Selbstreflexion“ von Sigfried Greif.

Man sucht nach einer Antwort, vermutet sie und dann kommt ein Buch um die Ecke und öffnet die Augen. So geschehen durch William Zinnser. Ich hatte immer das Gefühl, dass in meinen Texten zu viel Füllmaterial ist, dass es kürzer und mehr auf den Punkt gehen müsste, konnte aber nicht sagen, warum. Ich bin weiter.

Nehmen wir einen kurzen Textabschnitt von mir, den ich vor gezielter Beschäftigung mit dem Schreiben verfasst habe:

Diese, wie schon geschrieben, von Fatar bezogene OEM-Variante in Kunststoff ist ein wenig ein Mittelding zwischen Klavier- und Orgel-Tastatur, jedoch mehr Klavier. Ich würde sie auch als ein Mittelding zwischen gewichteter und halb-gewichteter Tastatur bezeichnen. Man kommt aber als Klavierspieler sehr gut mit ihr zurecht, sie spielt sich recht flüssig und stabil. Auffällig ist lediglich, wenn man sie mit einigen wenigen anderen Tastaturen vergleicht, dass die Oberfläche ein wenig klebrig ist. Auf der Bühne wird das kaum eine Rolle spielen, und zuhause merkt man es auch nur an seltenen Stellen.

Ganz selbstkritisch betrachtet, ist das eine Menge Müll. Diese, wie schon geschrieben …, wenn es schon geschrieben wurde, wird es der Leser noch wissen, also weg damit. Warum diese, die reicht und ist kürzer. Von Fatar bezogene …, es ist eine Fatar-OEM-Tastatur, selbst das OEM ist unwichtig und sagt nichts aus. Ein wenig …, also ist sie oder ist sie nicht? Und so weiter.

Würde ich unter diesen Gesichtspunkten den Absatz noch einmal schreiben, würde er so lauten:

Die Fatar-Tastatur aus Kunststoff ist ein Mittelding zwischen Klavier- und Orgeltastatur, liegt in der Gewichtung zwischen gewichtet und halbgewichtet. Als Klavierspieler kommt man mit ihr gut zurecht, sie spielt sich flüssig und stabil. Die Oberflächen der Tasten wirken etwas klebrig, was auf der Bühne nicht auffällt und zuhause nur in schnellen Läufen zu merken ist.

Punkt. Die Aussagen sind die gleichen, aber der Text ist straffer. Man mag einwenden, dass eine Bewertung eines Produktes eine subjektive Sache ist, und daher Relativierungen angebracht sind. Aber jede Produktbewertung ist subjektiv, und man sollte den Leser nicht für dumm halten.

Es hilft, seine Art zu schreiben, genau und bewusst unter die Lupe zu nehmen. Mache ich das mit meinen Texten, fällt mir eine Schwäche für die Wörter auch, eben, gar, vielleicht, wenig, eher und trotzdem auf. Ich denke, dass das Verwenden dieser Wörter an einer inneren Einstellung liegt. Auch im Eingangstext relativiere und verkümmere ich viele meiner Aussagen, anstatt zu sagen: So ist das und so sehe ich das. Zwar sollte man sich selbst nicht ernster nehmen als notwendig, doch zu seinen Aussagen sollte man stehen. Your mileage may vary, aber eine Analyse, warum ich bestimmte Füllwörter oder Relativierungen benutze, kann einen interessanten Einblick in meine Grundhaltungen ergeben. Andere mögen sicher, absolut, völlig, total als ihre Lieblingsfüller finden, aber die Schreiber haben ihr Problem auf der anderen Seite, sie wissen immer ganz genau, wo es entlang geht. Was nerven kann, weil es nicht um Information, sondern um Diktat geht.

Geht man mit sich selbst auch einmal kritisch um und gönnt man sich eine Reflexion dessen, was man schreibt, nähert man sich dem Leser an. Wenn ich informieren möchte, sollte ich das tun. Wenn ich überzeugen möchte, müssen Argumente und Fakten auf den Tisch. Wenn ich unterhalten möchte, kann es farbig oder sogar flapsig werden. Diese Ausrichtung auf die aktuelle Situation ist notwendig. Füllwörter sind dabei ein guter Anhaltspunkt, auf welchem Terrain ich mich vordergründig und hintergründig bewege. Eine Analyse seiner verzichtbaren Lieblinge hilft zu strafferen Texten, die auf den Punkt kommen. Füllmaterial kann schützen, es kann den Inhalt aber auch unauffindbar machen.

Zur Zeit schreibe ich an einem Buch. Es ist kein Roman, keine Prosa, nicht mal eine Biographie. Es ist die härteste Art von Buchschreiben, die einem unterkommen kann: ein Benutzerhandbuch für eine komplexe, über Jahre gewachsene Software. Diese letzten Worte sagen den Kundigen, dass nur zentrale Funktionen überhaupt dokumentiert sind, dass es hunderte von anprogrammmierten Rucksäcken gibt, und dass keiner so wirklich den Gesamtüberblick hat.

Sieht man von der Recherche ab, um wenigstens das Bekannte aufzuspüren, und um dann zufällig auf das Unbekannte zu stoßen, ist die Planung eines solchen Projektes die Fußangel. Wenn man nicht schon ein Dutzend Manuals hinter sich hat. Es ist für mich das erste Projekte dieses Umfanges, am Ende wird es auf ca. 250 bis 280 A5-Seiten hinauslaufen, Schriftgröße 9 pt. Und trotz aller gut gemeinten Vorplanung ist einiges schief gegangen. Weil ich nicht weit genug gedacht habe. Diese Erfahrungen anderen Schreibern, die zum ersten Mal vor so einem Brocken stehen, als Warnungen mit auf den Weg gegeben.

Kenne Deinen Gegner

Um ein Produkt zu beschreiben, ist es zwingende Voraussetzung, dieses Produkt und seine Funktionen zu 70 oder 80% zu kennen. Wie will sonst etwas nicht nur beschreiben, sondern auch seine Anwendung verständlich machen? Das ist eine Grundlage, ohne die man nicht anfangen sollte. Neben der reinen Kenntnisse der Funktionen ist es unumgänglich, sich die Fachterminologie anzueignen, und Begriffe miteinander in Beziehung setzen zu können. Ich muss als Autor kompetent und fachlich fundiert sein, sonst merkt der Leser sehr schnell, was nur Fassade ist.

Das Produkt muss ich auch deshalb gut kennen, um ein Bedienkonzept zu vermitteln. Für einen DVD-Player mag eine Erklärung der vorhandenen Tasten ausreichen, eine umfangreiche Software, ein digitales Studiomischpult oder eine komplizierte Maschine braucht ein Bedienkonzept, eine logische Linie in der Handhabung. Nun ist es eine bevorzugte Eigenschaft von älterer Software, ihr Bedienkonzept durch immer neue Funktionen und Erweiterungen verloren zu haben. Wenn sie es je hatte. Dann ist es Aufgabe des Autors, ein Bedienkonzept zu entwickeln. Viele Anleitungen sind nur eine weitschweifige Erklärung für das, was auf Buttons und in Menüs kürzer steht. Aber sie vermitteln, leider, kein Konzept. Ohne Konzept kann der Benutzer nicht ahnen, was er mit dem Zeugs soll. Der Leser muss aus meinem Geschreibsel verstehen, wie die Dinge zusammenhängen, was was bedingt, wie Dinge miteinander verbunden sind. Und wie er das erreicht, was er erreichen möchte. Er muss auch die verbundenen Fachbegriffe lernen, sie sollten ihm nach dem Studium unseres Manuals quasi bildlich vor Augen stehen. Lege den ersten Schwerpunkt darauf, ein Bedienkonzept zu entwickeln, und was der Leser an Vorwissen haben muss, bis es an’s Eingemachte geht. Erst dann kommen Planung oder gar Feinheiten. Was nützt es mir, das Navi perfekt programmieren zu können, wenn ich gar nicht Auto fahren kann?

Rechne damit, dass 10 bis zu 15% der Projektzeit für die Entwicklung eines Konzeptes drauf gehen. Darin ist dann aber auch schon die Idee vorhanden, wie ich meine Kenntnisse, Erfahrungen und Entdeckungen rüber bringe. Der Rest ist Handwerk. Und das kommt jetzt.

Gliederung und Struktur

Der vorherige Absatz ist bewusst länger geworden, weil dieser Teil im Grunde nur noch das Aufschreiben dessen ist, was im ersten Absatz beackert wurde. Schreibe nun die Struktur des Manuals auf, die ersten beiden Überschrifts-Ebenen und ein paar Stichworte zum Inhalt der Kapitel. Diskutiere Deine Struktur mit Leuten, die das Produkt kennen und nutzen, die Regel, dass vier Augen mehr sehen als zwei, gilt auch an dieser Stelle. Fürchte Dich nicht davor, dass diese Leute vom Produkt viel mehr wissen als Du, Du bist Schreiber, und Dein Gegenüber kann vielleicht super programmieren, aber schreiben in unserem Sinne kann er nicht. Software-Entwickler können keine Dokumentation schreiben, das ist ein Oximoron, eine Unvereinbarkeit. Du machst Deinen Job, er seinen, und Ihr braucht Euch gegenseitig.

Dann fange an. Nach letzten Vorbereitungen.

Schrift, Satz, Layout, Tools

Schreibt man ein Dokument für eine Firma, muss man etwas über das Corporate Design wissen. Welche Schriftarten sind Firmenschriftarten? Welche Größe? Welche Logos müssen wo stehen? Gibt es sogar eine Festlegung im CD, wie Dokumente aussehen müssen? Das ist alles zu klären, bevor der erste Buchstabe geschrieben wird. Noch bevor irgendein Gedanke an Satz oder Layout verschwendet wird.

Thema Tools. Man kann ein umfangreiches Manual mit Word als Schreibprogramm und Gimp für die Bildbearbeitung machen. Man kann auch mit einem Smart bis Sizilien fahren. Spaß macht das nicht. Und lange dauern wird es auch. Für professionelles Schreiben braucht man professionelle Werkzeuge. InDesign für Layout und Satz, Fireworks oder Photoshop für die Bildbearbeitung und Illustrator für Diagramme und Zeichnungen. Oder etwas Vergleichbares. Da sind dann gut 2000 € an Lizenzen über den Tisch gegangen, aber man kann auch Adobe-Programme in England kaufen, das kosten sie nur ein Viertel. Wenn man doch Word nutzt, und nach einer Änderung auf Seite 112 das Layout von Seite 8 zerbröselt, sollte man sich nicht wundern. Auch für diese Tools gilt, dass man sie einigermaßen nutzen kann, wobei es wenigstens für die verbreiteten Tools auch gute Handbücher gibt. Da wäre dann wieder etwas weitere Zeit vergangen, bevor wir in medias res gehen. Aber alles andere ist Bastelei, die sich rächen wird. Versprochen.

Letzte Vorbereitungen

Konzept da, Tools vorhanden, Ideen gesammelt, Struktur vorbereitet, Tools erlernt, Gliederung erarbeitet. Go? Noch nicht ganz. Das Layout und der Satz müssen noch gemacht werden, in InDesign wären das die Master Pages, die Paragraph und Character Styles, Table/Cell Styles, also alles, was das Bild und die Gestaltung unseres Dokumentes ausmacht. Seitenränder, wie sollen Kopf- und Fußzeilen aussehen, mache ich nur ein Inhaltsverzeichnis, oder auch einen Index? Addendum planen, was soll aus dem Hauptinhalt an das Ende? Keyboard-Shortcuts, alle Icons erklären, Übersicht der Fachbegriffe, wenn diese Fragen in der Strukturierung noch nicht eingeflossen sind, sollte es spätestens jetzt geschehen.

Jetzt noch ein Hinweis aus eigener Erfahrung. Man braucht immer Screenshots. Daher sollte man noch ganz am Anfang sich drei Größen von Screenshots nehmen, die kommen. Hauptfenster, Dialoge und Unterfenster, als Standardgrößen und diese von 72 auf 300 dpi hochskalieren, sonst ist davon später im Print nichts mehr lesbar. Welche Größen müssen die Screenshots im Dokument haben, damit es noch lesbar bleibt? Auch diese Werte festschreiben und im gesamten Dokument konstant halten. Überhaupt so viel wie möglich ganz am Anfang, vor dem ersten Satz festlegen, ausdrucken und an den Bildschirm pappen.

Welche Seitenabstände der Bilder und Zeichnungen? Welcher Textfluss um Bilder? Farben in Paletten packen, so dass Zeichnungen einen einheitlichen Stil haben. Blocksatz ist für Zeitungen, beim Flattersatz muss ich aufpassen, dass es nicht zu unruhig wird und mein Layout darauf abstimmen. Alles, was irgendwie Maß oder Größe hat, immer fest definieren und auch dokumentieren. Nicht dass das vorletzte Kapitel im Layout völlig anders aussieht als das zweite. Und so weit wie möglich vorausdenken, was bald kommt. Diese paar Stunden an Vorbereitungen, an Vordenken und Vorplanen, können einem spätere Schweißausbrüche und Panikattacken ersparen. Und sie sorgen für ein professionelles Dokument.

Jetzt aber

Genau, nun ist es Zeit einzusteigen und loszufahren. Es mag eine Menge Vorarbeit gewesen sein, jedoch kann man sich nun auf das konzentrieren, was man rüberbringen will. Sein Konzept der Bedienung vermitteln, den Benutzer an die Hand nehmen und ihm sagen: „So, pass auf, ich erkläre Dir das jetzt mal ganz genau.“

In der letzten Zeit hatte ich die Ehre, einige Datenblätter und Manuals auf den neusten Stand zu bringen und auch gleich in’s Deutsch zu übersetzen. Man kann auf Fragen stoßen, die einem früher nie in den Sinn gekommen sind. Dazu gehören solche weltbewegenden Problemstellungen wie:

  • Wie behandele ich eigentlich Satzzeichen?
  • Welche Satzzeichen sind wichtig, welche stören oder sehen blöd aus?
  • Datenblätter strotzen vor Zahlen, Zeichen und Einheiten, wie wollen es Normen und Vorgaben?
  • Wie stelle ich technische Daten überhaupt konsistent dar?

Also die typischen Fragen, die einen Redakteur über Stunden beschäftigen können. Ich verstehe Leute, die Schmetterlinge sammeln.

Satzzeichen

Es ist nicht Analphabeten vorbehalten. Man findet ( oft zuhauf ) eine Reihe von terminierenden und / oder nicht terminierenden Satzzeichen – den Punkt am häufigsten – in unterschiedlichen, oft willkürlichen Positionen; deren Sinn sich selten erschließt. Schaut man sich diesen Satz an, so fällt auf, dass Satzzeichen und Sonderzeichen nicht der Gliederung dienen. Sondern der Optik. Die tatsächliche Funktion von Satzzeichens ist es aber, den Fluss der Aussage zu charakterisieren. Sonderzeichen haben Sonderfunktionen, sonst würden sie nicht so heißen. Satzzeichen gliedern Sätze, so wie Absätze die Gedanken. Sinnvolle Satzzeichen im fließenden Text sind drei, maximal vier. Punkt, Komma, Fragezeichen. Eventuell noch der Gedankenstrich. Gut, den Doppelpunkt lassen wir auch noch zu. Das Semikolon ist halbseiden, der Schreiber konnte sich nicht zwischen Punkt und Komma entscheiden.

Klammern. Die Funktion der Klammer ist nur die: ein Heraustreten aus dem momentanen Gedanken. Ich verlasse die Gedankenlinie für einen Moment, werfe etwas ein. Das kann man machen, aber ist es ein längerer Satz, kommt Verwirrung auf. Möglich ist statt der Klammern das Einbinden in Gedankenstriche. Kann man machen – ich habe eckige Klammern vergessen – muss man nicht.

Ausrufezeichen. Machen nur an zwei Stellen Sinn, in Warnungen und bei wörtlichen Zitaten, wo die Aussage so gemeint war. Sachtext braucht keine Ausrufezeichen.

Das Leerzeichen als Störfaktor

Im Fachjargon gerne als Deppenleerzeichen bezeichnet. Vor Satzzeichen, seien es Klammern oder ähnliches, kommen keine Leerzeichen, ebenso nicht an den Schrägstrich. Also und/oder, und nicht und / oder. Nach laufenden Satzzeichen muss es aber stehen, hinter Punkt, Komma, Fragezeichen, Semikolon und Konsorten.

Das Kreuz mit technischen Daten

Mein Lieblingthema. ISO1000 sagt, dass Einheiten durch ein Leerzeichen abgetrennt werden. Die Verwendung des Minuszeichens für Bereichsangaben wird nicht empfohlen, stattdessen drei Punkte. Einige Fonts haben diese sogar als Glyphen. Das Ganze nun als Übersicht, man findet es in jedem Datenblatt anders.

Gewicht: 8,2 kg Das Komma ist im Deutschen Dezimaltrenner
Betriebstemperatur: -10 … 40 °C Kein Plus vor die 40
Abmessungen (BxHxT): 10 x 30 x 40 mm Ausrichtungen angeben
Betriebsfeuchte: 0 … 80% Prozent ist keine Einheit, kein Leerzeichen
Systemanschluss: Ethernet (RJ45) Hier machen Klammern Sinn
Ausgänge: 4 x RS-232 Das x bekommt Leerzeichen
Eingangsspannung: 230 V~ VAC für die USA
Ausgangsspannung: 24 V= ~ und = sind das Einzige, was ISO1000 erlaubt

Und nur die Basiseinheiten sind erlaubt. Einige Ausnahme: Gleichheitszeichen und Tilde für Gleich- und Wechselstromwerte, Grad Celsius werden zusammengefasst, da das Grad eben zum Celsius gehört. Ein Prozentzeichen ist keine Einheit, daher kein Leerzeichen.

Mir fällt bestimmt noch mehr auf. Fortsetzung folgt.

(und die Ohnmacht der Adjektive und Adverbien)

Wie der US-Blog RadarOnline.com berichtet, soll die Liebessause, auf die Insider nach Geburt der gemeinsamen Kids Harlow (2) und Sparrow (1) schon seit einer kleinen Hollywood-Ewigkeit spekulieren, in Los Angeles steigen. Auf der Gästeliste für die Feierlichkeiten auf dem Anwesen von Nicoles Schmusehit-Papi Lionel Richie (61): angeblich nur Familienmitglieder und eine Handvoll ausgewählter (Promi-)Freunde. Ein Hollywood-Insider verriet: „Nicole hat die Gästeliste gekürzt, weil sie keine Riesenhochzeit wollte. Viele prominente Freunde sind nicht dabei. Offensichtlich hat das einige vor den Kopf gestoßen.“ Unter denen dürfte auch Paris Hilton (29) sein. Denn laut der britischen Tageszeitung „Daily Mail“ soll Nicole Richies ehemalige Busenfreundin KEINE Einladung bekommen haben.

Ein wahrhaft grottenschlechter Text, die Quelle bürgt für diese Qualität. Es lohnt sich aber genauer hinzusehen, was den Text so schlecht macht. Es ist die Farblosigkeit der Wortwahl auf der einen Seite, und der verzweifelte Versuch auf der anderen, mit hippen Verben und stereotypen Adjektiven doch noch Farbe hinein zu bringen. Was dann in die Hose geht. Aber wir sollten mit solchen Urteilen vorsichtig sein, zu oft tappen wir selbst in die Falle. Erscheint uns ein Satz zu langweilig oder farblos, pumpen wir ihn mit Adjektiven oder gerade mit Adverbien voll, blähen ihn auf und entziehen dem, was Kraft und Aussage hat, die Substanz: dem Verb. Das Verb ist der Kern des Satzes, das Verb drückt das Geschehen aus. Ausgerechnet die Adverbien, die der Modifikation oder Erweiterung des Verbs dienen sollen, verwässern Aussagen und führen den Leser in die falsche Richtung.

Sie lächelte freundlich. Freundlichkeit ist der Inhalt des Lächelns, das Adverb ist überflüssig. Es stört. Sie lächelte traurig. Hier hat das Adverb eine wichtige Funktion, es modifiziert das Verb, hat eine Bedeutung. Ein grausamer Krieg. Krieg ist immer grausam. Wenn dieser Krieg anders war als andere, ist das eine nähere Beschreibung wert. Sie tanzten fröhlich um den Baum herum. Also wenn ich traurig bin, werde ich nicht tanzen. Und doch mag es Fälle geben, wo die Modifikation wichtig ist, Sie tanzte mit ihm versteinert. Die Kampagne wirkt umsatzsteigernd. Einer Kampagne, die umsatzmindernd wirkt, würde ich nicht über den Weg trauen. Damit werden Ihre Ansprüche im Bezug auf ausgezeichnete Kosteneffizienz in besonderem Maße erfüllt. Originalzitat, wer hat die Kosteneffizienz ausgezeichnet? Ansprüche können erfüllt werden, aber wie werden sie besonders erfüllt? Und was zum Teufel ist Kosteneffizienz, dass die Kosten effizient sind? Da dreht es dem BWLer den Magen herum.

Man mag einwenden, dass Marketing-Texte so sein müssten, aber wo sie definitiv nichts zu suchen haben, ist in der Non-Fiction, in Artikeln, Berichten oder Geschichten. Man sollte sich dort bemühen, den Satz durch seine Kernkomponenten wirken zu lassen, durch Verben und Adverbien dort, wo sie ihren Sinn erfüllen. Gleiches gilt für Adjektive, aber meistens sind es die Adverbien, die wie Glitzersternchen über den Text gestreut werden, und in der Menge billig und kitschig wirken. Er schaute ihr lange und tief in die Augen. Wenn ich jemandem in die Augen schaue, ist die Tiefe und Intensität gegeben. Noch etwas, was dabei passiert, ist das Vorwegnehmen von Bildern im Kopf des Lesers, und entstehen durch den Text nicht die eigenen Bilder im Kopf, unsere Bilder, fühlen wir uns übersteuert, kontrolliert.

Kein Text entsteht im ersten Wurf. Jeder Text braucht einige Zyklen des Überprüfens, Neustrukturierens und Abgleichens. Einer dieser Schritte sollte die Überprüfung auf überflüssige Adverbien (und Adjektive) sein. Beispiele für konzentrierten Text finden sich am besten dort, wo gute Schreiber am Werk sind, in der „Zeit“, oft im „Spiegel“ oder sogar in der „Brigitte“. Auch „Tom Sawyer“ und „Das Parfüm“ kommen mit erstaunlich wenig Adverbien aus. Und die besten Quellen sind immer noch die, die vom Marketing-Blahblah und vom medienwirksamen Aufblähen verschont sind: die klassische Literatur.

Bei einer Endlagenprüfeinrichtung für bewegliche Weichenteile mit einem Prüfergestänge und einem Prüfergehäuse, in welches das Prüfergestänge eingeführt ist und in welchem wenigstens ein Detektor zur Erfassung einer Endlage des Prüfergestänges angeordnet ist, dadurch gekennzeichnet, dass das Prüfergestänge an den beweglichen Weichenteil (3) in einer quer zur Schienenlängsrichtung liegenden Vertikalebene schwenkbar angeschlossen ist und dass das Prüfergestänge wenigstens eine Stange (8) mit kreisrundem Querschnitt umfasst, welche Stange (8) in ihrem dichtend in das Prüfergehäuse (12) eintauchenden Bereich an ihrem Umfang wenigstens eine Schaltflanke (13) trägt, welche mit einem Schalterkontakt (16) zusammenwirkt.

Dass geniale Erfinder nicht unbedingt auch geniale Schreiber sein müssen, wird hier klar. Es ist Text aus einem Patent, der die Funktion einer Apparatur beschreibt. Und ein perfektes Beispiel, wie man Sätze formuliert, die nicht mehr verständlich sind. Bei solchen Formulierungen ist das Problem, dass man am Ende des Satzes nicht mehr weiß, was der Anfang war. Dazu ist es hilfreich, wenn man etwas über die Verarbeitung von Informationen und Eindrücken weiß, über die Funktion des Gedächtnisses.

Nehmen unsere Sinne eine Information auf, geht sie als erstes in das Sensorische Register. Dieses bewertet Information nach Interesse und Wichtigkeit. Zwei Leute gehen durch eine Stadt, der eine sieht nur die Gebäude, der andere nur die weibliche Bevölkerung. Ist die Information dort als zu beachten registriert worden, geht sie weiter in das Kurzzeitgedächtnis, zur Zwischenspeicherung. Dort geschehen nun zwei Dinge. Als erste Bewertung wird eine lose Verbindung in das Langzeitgedächtnis aufgemacht, ob diese Information emotional positiv oder negativ besetzt ist. Diese Überprüfung geschieht nicht bewusst, sondern das geht über unbewusste Kanäle. Und sie muss schnell sein, denn eventuell meldet unser Kleinhirn den Befehl zur sofortigen Flucht oder zum Angriff, da wäre Nachdenken nur im Wege. Die Information kann ja sein, dass ein Säbelzahntiger zwei Meter vor uns steht. Ist die Bewertung positiv oder neutral, darf sie weitergeleitet werden. Leider gibt es da ein kleines Problem, das Kurzzeitgedächtnis kann nur maximal fünf bis neun Informationseinheiten behalten, alles, was neu rein kommt, verdrängt Älteres. Erst was es von dort in’s Langzeitgedächtnis geschafft hat, wird bewusst verarbeitet und gespeichert. Und erweist sie sich dort als nutzlos und selten gebraucht, verschwindet sie auch von dort ruckzuck.

Der Text aus dem Patent ist keine in sich abgeschlossene Informationseinheit, sondern eine Häufung von Einheiten. Das Gedächtnis hat keine Chance, diese in eine logische oder zeitliche Sequenz zu bringen. Ihm fehlen die Millisekunden zur Verarbeitung, ihm fehlen die Minipausen, die da heißen Punkt, Ausrufezeichen oder wenigstens ein kleines Semikolon. Nehmen wir einen anderen Satz. Er stieg also wieder aus dem Bus aus, wandte sich unentschieden nach rechts, ging die breite Hauptstraße herunter, aß an einem Imbiss-Stand einen pappigen Hamburger, trank noch einen lauwarmen Kaffee zu Wucherpreisen hinterher, zündete sich eine weitere Zigarette an und überlegte, was er mit dem Rest dieses langweiligen Abends anfangen sollte. Dieser Satz ist kein Problem, weil die einzelnen Informationen in einem zeitlichen Zusammenhang stehen, und vertraute Informationsanteile beinhalten. Bei jedem Komma ist der zeitliche Verlauf klar. Und daher könnte man den Satz auch ohne Schwierigkeiten wiederholen, er läuft in unserem Gedächtnis wie ein Film ab.

Es wird immer wieder die Regel zitiert, ein Satz sollte nicht mehr als 20 oder 30 Wörter haben, sonst sei er zu lang. Diese ist nicht grundsätzlich falsch, ist aber auch nicht die global-galaktische Lösung für verständliche, leserliche Sätze. Richtig ist, dass man Sätze nach Füllwörter wie auch, aber, so, sehr, viel, wenig durchsuchen sollte, ob sie für den Sinngehalt wichtig sind. Genauso kann so manches und gut durch ein Komma ersetzt werden und so Vorteile haben, so Vorteile haben. Zum Beispiel, dass der Stil flüssiger, die Struktur des Satzes interessanter wird. Wichtiger ist es aber, Sätze so zu bilden, dass das Kurzzeitgedächtnis nicht in einen Overflow kommt. Sind die Einzelheiten eines Satzes in einem logischen, zeitlichen oder kausalen Zusammenhang, tut sich unser Gedächtnis leichter. Und die Verständlichkeit wird besser.

Um Satzstrukturen klar zu gliedern und aufzubauen, ist gerade das notwendig, was beim Schreiben am meisten vernachlässigt wird: Organisation und Planung. Weil der Satz als Element des Gesamten, des gesamten Textes fungiert. Dann sollte sich klare Struktur nicht nur auf den einzelnen Satz, sondern auf den gesamten Text beziehen. Also erst ein paar Mal vorher nachdenken, und dann schreiben. Und nicht umgekehrt.

Man sollte sich immer die wichtigste Regel des Schreibens vor Augen halten: den Leser zu interessieren, ihn bei Stange zu halten und das Weiterlesen interessant machen. Das kann durch witzigen Stil, ausgefeilte Sprachkonstuktionen oder geplante Abweichung von der Norm geschehen. Aber witzige Manuals sind nicht jedermanns Sache. Und eine lyrische Software-Dokumentation auch nicht. Aber einen klaren, verständlichen und strukturierten Text lesen ist immer willkommen. So wie Pasta, Fischstäbchen und Kartoffelpüree. Man muss nicht lange kauen, um satt zu werden. Übrigens aufgefallen, was nicht selten passieren kann, im obigen Satz? Dass pappig und lauwarm schon emotional besetzt sind, und wahrscheinlich im Gedächtnis am ehersten hängen bleiben, wenn man den Satz zitieren müsste. Dort greift die emotionale Bewertung und zeigt schön die Funktion des Kurzzeitgesetzes.

Gerät man in den Verdacht, des Englischen irgendwie mächtig zu sein, kommt man schnell in die Situation, dass man ein professionelles Übersetzungsbüro dem Budget erspart. Dabei ist es ein großer Unterschied, ob man eine Sprache gelernt hat, sie spricht, oder sie lebt. Letzteres heißt, sich mit dem Land, der Kultur und seinen Eigenarten zu beschäftigen. Und den Eigenarten dieser Sprache, seiner Atmosphäre.

In den meisten Fällen, wenn es einen denn getroffen hat, wird man übersetzen und sich nicht wehren. Leider hat dieser Vorgang, hier auf Englisch -> Deutsch reduziert, so seine Fallstricke. Und wie üblich, liegen diese oft dort herum, wo man sie nicht erwartet. Auf ein paar dieser Fallstricke möchte ich eingehen, aus dem beruflichen Alltag, nach einigen Büchern über englische Grammatik und längerer Zeit des Lebens in diesem merkwürdigen Land mit seiner merkwürdigen Sprache. Ohne Anspruch zu erheben, professioneller Übersetzer zu sein.

Geht man nun mit wohl gutem Schulenglisch und gelegentlichem Englisch-Sprechen an die Aufgabe, wird Übersetzen so interpretiert: man ersetze die englischen Begriffe durch deutsche und passe die Satzstellung an. Und läuft sofort in die beiden beliebtesten Fallen. Denn das funktioniert gerade nicht, wie Babelfish deutlich gezeigt hat. Beginnen wir mit Annahme #1, dem „Übersetzen“ der Worte und Begriffe.

Selbst in renommierten Blättern ist immer wieder die Rede von der amerikanischen Administration. Administration ist im Deutschen das Fremdwort für Verwaltung. Die amerikanische Verwaltung ist wohl weniger gemeint, eher die amerikanische Regierung. Das passiert, wenn man American administration linear übersetzt. False friends. In der Technik ist to control immer sehr beliebt. Übersetzt ist es nicht kontrollieren, sondern regeln, lenken, steuern. Noch schlimmer wiegt die Tatsache, dass sich die endgültige Bedeutung oft erst im Sinnzusammenhang ergibt. She made coffee, das ist einfach zu übersetzen, an anderer Stelle heißt she made it aber etwas ganz anderes, sie hat es geschafft. Lineare Übersetzung, also das Ersetzen von Wörtern aus dem Wörterbuch, funktioniert an vielen Stellen nicht. Von den Problemen mit what/which, this/that oder each/every/any ganz zu schweigen. Die Semantik muss man wissen, sonst wird der Text für einen Muttersprachler holpend bis seltsam. Aber dem nicht genug, selbst wenn die Vokabel stimmt, lauern weitere Tücken.

Betrachtet man einen englischen Text und sein deutsches Pendant, ist der englische Text um 20 oder sogar 30% kürzer. Der Grund ist der, dass der englische Satzbau wesentlich effektiver ist und weniger redundant. Wo im Deutschen ein kompletter Nebensatz gebraucht wird, reicht im Englischen eine -ing-Form. Going to the church I met a friend, Als ich zur Kirche ging, traf ich einen Freund. 34 gegen 47 Buchstabenpositionen. Auch verwendet das Englische Artikel und Präpositionen wesentlich sparsamer, viele reflexive Verben brauchen kein self und so weiter. Dafür ist die Satzstellung im Englischen wesentlich empfindlicher. Je nachdem, wie Präpositionen positioniert werden, kann sich die Bedeutung oder Betonung der Aussage ändern. Nicht zu vergessen die andere Verwendung der Zeiten im Englischen, das Plusquamperfekt hat im Englischen einen anderen Bezug zum Verlauf der Zeit und den Geschehnissen. Und die Verlaufsform scheint oft ein unlösbares Rätsel zu sein.

Wenn ich mit diesen Vorbetrachtungen eine lineare Übersetzung mache, kann die Sache nur in die Hose gehen. Aber wie übersetze ich nun einen englischen Text? Gerade bei sachlichen oder auch werblichen Texten bietet sich eher ein Re-Engineering des Textes an:

  • Den Sinninhalt des Textes analysieren und erfassen, was soll ausgesagt werden?
  • Den Text in Abschnitte gliedern, es kann sein, dass es sinnvoll ist, einen englischen Satz in zwei deutsche oder umgekehrt zu übertragen.
  • Den Sinninhalt des englischen Satzes erfassen und dann in Deutsch (neu) formulieren.
  • Dabei insbesondere Zeiten und Betonungen umsetzen.

Die Kernaussage ist: nicht Wort für Wort übersetzen und am englischen Text kleben, sondern den Inhalt der Sätze möglichst genau in Deutsch wiedergeben. Gleiches gilt für die umgekehrte Richtung, auch hier kann eine Neustrukturierung des Textes notwendig sein. Dass man in Gefahr läuft, direkt übersetzen zu wollen, hat mit der gleichen Sprachfamilie zu tun, aber genau davon sollte man sich nicht verführen lassen. Müsste man Walisch zu Deutsch übersetzen, wäre die Gefahr deutlicher. Denn dabei wechselt man die Sprachfamilien, und würde gar nicht auf die Idee einer 1:1-Übersetzung kommen.

Und immer schön vorsichtig mit den false friends.

Auf den ersten Blick scheinen diese drei Begriffe sehr nah beieinander zu liegen, scheinen fast Synonyme zu sein. Aber sind sie das wirklich? Vielleicht lohnt sich ein genauerer Blick auf sie, um gutem und verständlichem Schreiben näher zu kommen.

Betrachtet man Schreiben und Sprechen, habe diese beiden Vorgänge einen Aspekt gemeinsam, das Ziel der Informationsübermittlung. Ob man nun eine Bedienungsanleitung schreibt (ich übermittle Dir Info zum korrekten Gebrauch dieses Dingsdas) oder eine schwärmerische Liebes-Email (ich übermittle Dir meine Gedanken und Gefühle), steht die Informationsübermittlung im Vordergrund. Das tut Sprache auch, aber der Unterschied besteht im Online- und Offlinemodus. Sprache ist online, es gibt in diesem Moment einen Empfänger, er kann rückfragen, intervenieren, zustimmen. Sprache ist, im Gegensatz zum Schreiben, interaktiv. Schreiben erfolgt im Offlinemodus, wann das Geschriebe gelesen wird, ist offen. Morgen, im nächsten Jahr, in zehn Jahren. Es gibt keine Regelschleife, der Leser ist dem Text hoffnungslos ausgeliefert. Er muss ihn so nehmen wie er ist, kann Sprache nicht zum Dialog nutzen. Höchstens über den Text schimpfen. Das wäre wieder eine Chance zu einem Selbstgespräch. Bleibt noch die Alternative, das Buch zuzuklappen und in die Ecke zu legen, weil man nicht versteht, was der Schreibende übermitteln will. Oder weil er es so endlos kompliziert angeht.

Dann ist die Chance vertan, denn gerade beim Schreiben habe ich die Möglichkeit, immer wieder zu überprüfen, zu korrigieren und mich meinem Ziel schrittweise zu nähern. Kein Text entsteht im ersten Wurf, manchmal muss ein Text viele Zyklen hinter sich bringen, bis er die Qualität und Aussagekraft erreicht hat, die ich anstrebe. Stattdessen wird oft hingehackt, hingeworfen und fabuliert. Leider oft in Email, aber auch so manche Bedienunganleitung scheint auf diesem Weg entstanden zu sein. Woran liegt das?

Hätten wir noch das Denken. Ist Denken Sprechen mit sich selbst? Sehen wir vom selbstbezogenen Gebrabbel beim Staubsaugen ab, ist Denken keine Interaktion. Was ist Denken dann? Denken setzt Sprache voraus, ohne Sprache ist Denken nicht möglich. Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt, dieser Satz gilt. Doch im Gegensatz zum Ziel Informationsübermittlung bei Sprache und Schrift ist das Ziel im Denken die Reflexion. Ich denke über etwas, über mich oder über jemanden nach, ich betrachte eine Situation, spiele sie erneut durch, sammle Argumente und Beweise, Kennzeichen und Bedeutung. Denken ist Phantasie und Fiktion, sie bezieht ihren Input weitgehend aus der Realität, ist aber nicht zwingend für die Realität gedacht. Der Tagtraum ist das beste Beispiel.

Also sind Denken, Schreiben und Sprechen doch unterschiedliche Vorgänge. Das Denken ist in jedem Fall die Voraussetzung für die Informationsübermittlung, nicht umsonst sagt man „Vor dem Reden Gehirn einschalten“. Wenn wir sprechen, läuft unser Gehirn einige Sekundenbruchteile vor, oder sollte es wenigstens, und formuliert, bevor aus dem Gedanken gesprochenes Wort wird. Aus Reflexion wird so Sprache, aus der Theorie Realität. Manchmal mag sich der Gedanke zuerst verlaufen, dann können wir korrigieren, die letzten Worte zurücknehmen, die Sache umformulieren. Es gibt Zeitgenossen, die brauchen so viele Korrekturen, dass am Ende der Sinn ihrer Worte unklar bleibt. Leider geschieht das beim geschriebenen Wort auch nicht selten.

Die Kette wird so sichtbar. Der Ausgangspunkt, sozusagen die Genesis von Wort und Schrift, ist der Gedanke. Und die Qualität des Denkens entscheidet über die Qualität von Sprache und Schrift, ist der Gedanke schon unausgereift und verquer, kann auch auf anderem Weg nix Gutes dabei herauskommen. Aus Denken wird Sprechen, aus Sprechen wird Schreiben. Heißt, dass es notwendig ist, strukturiert und zielgerichtet zu denken, bevor man zu strukturiertem und zielgerichtetem Schreiben kommt. Vor dem Schreibenlernen stünde dann das Denkenlernen. Die Sprache in der Mitte des Verlaufes müsste sich dann ebenso verbessern. Sie müsste verständlicher, klarer und universeller werden. Ein kleines bisschen Offline vertragen können.

Will ich also strukturiert und damit verständlich schreiben, und auch sprechen, ist strukturiertes Denken die Voraussetzung. Die Voraussetzung für strukturiertes Denken wiederum ist die Fähigkeit zur Reflexion. Bin ich in der Lage, meine Welt der (Selbst-)Kritik auszusetzen und in Frage zu stellen, mein Denken auf den Prüfstand zu lassen, wird sich auch mein Schreiben verbessern. Wir sprechen und schreiben, wie wir denken. Eigentlich ganz einfach.