Mit gut 1.400 Seiten ist das Buch «Die Vernichtung der europäischen Juden» eher nicht zum Lesen gedacht. Sondern es ist eine Dokumentation und Referenz. Lediglich die ersten Kapitel über die historischen Hintergründe des Antisemitismus und die Rolle und Bedeutung der Juden sind linear angelegt und machen verständlich, wann und warum der Antisemitismus überhaupt entstand. Also bestimmt kein Werk, das man von vorn nach hinten durchliest. Aufgrund anderer Rezensionen und Stellungnahmen hatte ich erst etwas Zweifel, wie weit das Buch überhaupt relevant ist, wie weit es auf Tatsachen beruht. Ob es eher eine Interpretation ist. Am Ende sind geschichtliche Betrachtungen aber immer Interpretationen, wichtig sind deshalb die Gründe, warum der Autor zu bestimmten Schlüssen gekommen ist. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, warum das Buch stark in der Kritik stand. Ähnlich wie die Funktionalisten unter den Historikern, namentlich Martin Broszat, Hans Mommsen und Christopher Browning, deutete Raul Hilberg den Entschluss zum Holocaust als prozesshaften Vorgang einer kumulativen Radikalisierung, der allerdings ohne die Person Hitlers nicht denkbar gewesen wäre. So schafft das Buch nicht nur einen detaillierten Blick auf die Vernichtung der Juden in ihren Details, sondern widerspricht zugleich vielen Mythen, die um den Holocaust gesponnen werden. Die Deutschen hätten nichts davon gewusst, die Wehrmacht sei immer sauber geblieben und es seien ja nur die SS und Gestapo beteiligt gewesen. Eben nicht.
Archiv für das Monat: August, 2024
Noch ein Buch über den Osten, das Billy-Regal droht zusammen zu brechen. Langsam hätte ich eine Tendenz, Bücher zu diesem Thema zu ignorieren. Wenn dann nicht der Autor Steffen Mau hieße, den ich aus anderen Veröffentlichungen schon kenne. Findet Steffen Mau noch andere Aspekte in der Sache? Im Rahmen des Möglichen schafft er das durchaus. Dazu geht Mau auf Daten und Fakten ein, die zwar im Grunde bekannt, aber selten wirklich bewusst sind. Nämlich die Unterschiede zwischen Ost und West hinsichtlich Sozialstruktur, Demografie, Fragen der Demokratie, Geschichtsverständnis und Identitätspolitik. Malt man nun eine Karte der Bundesrepublik mit allen Bundesländern, färbt man die Länder unter diesen Aspekten ein, so ist immer noch zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland die ehemalige Zonengrenze deutlich sichtbar. Nun stellt sich die Frage, was man mit diesen Erkenntnissen macht, die Mau in den ersten sechs Kapiteln des Buches im Detail beschreibt. Hier hat Mau etwas Unerwartetes in der Tasche, das er im letzten Kapitel hervor zaubert. Er hat tatsächlich Ideen, wie man die historisch und politisch gewachsenen Unterschiede zwischen dem westlichen und östlichen Teil Deutschlands angehen kann. Das klingt sogar richtig gut und machbar. Ich wäre auf jeden Fall dabei.
(Einen Beitrag von Steffen Mau zum Thema findet man auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung.)
Juli Zehs Roman «Über Menschen» hatte es mir schon ziemlich angetan. Da ich mir das aktuelle 1.400 Seiten-Monsterbuch nur nach und nach erarbeite, brauche ich zwischendurch Auszeiten. Also mal wieder ein Roman. Theresa und Stefan haben einmal zusammen gewohnt, sind dann aber getrennte Wege gegangen. Nach über 20 Jahren treffen sie sich zufällig wieder. Stefan ist Redakteur in einem Hamburger Magazin, Theresa hat den Hof von ihrem Vater in Brandenburg übernommen. Zwei Welten treffen auf einander, hier der immer mit Gendersternchen schreibende Journalist mit Gutmenschentum, dort die mit den Problemen der Landwirtschaft ausgelastete Landwirtin. Ein persönliches Treffen in Hamburg endet im Desaster. Trotzdem tauschen sie sich weiter aus, über Messenger und E-Mail. Streiten sich, belehren sich, machen die Spaltung der Gesellschaft greifbar. Eher unerwartet eskalieren die beiden Geschichten. Ein unbedachter Spruch des Chefredakteurs des "BOTEN" über eine neue Kollegin führt zum existenzgefährdenden Shitstorm, ausbleibender Regen und der Brand einer Trockungsstrecke für die Biogasanlage sind nur die Vorboten der weiteren Entwicklungen. Juli Zeh und Simon Urban nehmen sich die komplette heutige Lebenswelt im Digitalen und Analogen vor.
Ein früherer Entschluss von mir war, Bücher, die ich jetzt nicht so lesenswert fand, nicht zu rezensieren. Diese Zurückhaltung habe ich seit einem Buch von T. C. Boyle aufgegeben. Auch bei Elke Heidensreichs Buch «Altern» blieb ich am Ende mit der Frage zurück, was mir das Buch eigentlich sagen wollte. Trotz des Papperls(*) der SPIEGEL-Bestenliste. Elke Heidenreich erzählt ihr Leben, ihre Erfahrungen mit dem Alter, wie ihr Leben im Alter heute, mit über Achtzig, aussieht. Wie sie lebt, was ihr noch wichtig und was ihr unwichtig ist. Dazu besteht das Buch zu fast einem Drittel aus Zitaten aus anderen Büchern, deren Zusammenhang mit dem umgebenden Text eher nebulös bleibt. Dass das Buch auf der SPIEGEL-Liste erscheint, ist wohl eher der Popularität der Autorin geschuldet, der Inhalt ist weder Autobiografie, noch nähert er sich dem Thema mit allgemeinem Bezug. Mir ist nicht einmal ein Untertitel dazu eingefallen, außer vielleicht "Elke Heidenreich erzählt aus ihrem Leben". Trotzdem ich selbst nicht mehr der Jüngste bin, konnte ich weder Heidenreichs Erkenntnisse noch die Zitatsammlung verwerten. Sorry für die Offenheit, aber dieses Buch kann man sich einfach sparen.
(*) Bayrisch: Aufkleber