Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden
Mit gut 1.400 Seiten ist das Buch «Die Vernichtung der europäischen Juden» eher nicht zum Lesen gedacht. Sondern es ist eine Dokumentation und Referenz. Lediglich die ersten Kapitel über die historischen Hintergründe des Antisemitismus und die Rolle und Bedeutung der Juden sind linear angelegt und machen verständlich, wann und warum der Antisemitismus überhaupt entstand. Also bestimmt kein Werk, das man von vorn nach hinten durchliest. Aufgrund anderer Rezensionen und Stellungnahmen hatte ich erst etwas Zweifel, wie weit das Buch überhaupt relevant ist, wie weit es auf Tatsachen beruht. Ob es eher eine Interpretation ist. Am Ende sind geschichtliche Betrachtungen aber immer Interpretationen, wichtig sind deshalb die Gründe, warum der Autor zu bestimmten Schlüssen gekommen ist. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, warum das Buch stark in der Kritik stand. Ähnlich wie die Funktionalisten unter den Historikern, namentlich Martin Broszat, Hans Mommsen und Christopher Browning, deutete Raul Hilberg den Entschluss zum Holocaust als prozesshaften Vorgang einer kumulativen Radikalisierung, der allerdings ohne die Person Hitlers nicht denkbar gewesen wäre. So schafft das Buch nicht nur einen detaillierten Blick auf die Vernichtung der Juden in ihren Details, sondern widerspricht zugleich vielen Mythen, die um den Holocaust gesponnen werden. Die Deutschen hätten nichts davon gewusst, die Wehrmacht sei immer sauber geblieben und es seien ja nur die SS und Gestapo beteiligt gewesen. Eben nicht.
Dokumentarisch ist das Buch schon deshalb, weil manche Seiten zur Hälfte aus Quellenangaben bestehen. Nicht nur Verweise auf andere Untersuchungen, sondern auf Zeitungsartikel, Protokolle, Dokumente und Gesetzestexte aus der Zeit bis 1945. Da ist wenig zu interpretieren, was auch nicht Hilbergs Absicht ist. Seine Absicht ist zu dokumentieren, wie aus dem alltäglichen Antisemitismus in der Weimarer Republik und davor der Mord an Millionen Menschen wurde. Nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern auch Roma und Sinti, dazu polnische, ukrainische und sowjetische Menschen. Es ist auch Absicht des Autors, die Wege und Eskalationsstufen zu zeigen, die bis 1945 dieses größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte herbei führten. So wird klar, dass der Holocaust nicht einfach eine Aktion der NSDAP, der SS und der SA waren. Ohne die Mitwirkung der Ministerien, des Beamtenapparates, der Polizei und der Wehrmacht wäre der Holocaust überhaupt nicht möglich gewesen. Auch nicht ohne die Wirtschaft, denn jemand musste ja die Gaswagen, die in der Sowjetunion und in Polen zum Einsatz kamen, bauen. Zyklon B ist auch zuerst für die Insektenbekämpfung entwickelt worden, bis man darauf kam, es zum Töten von Menschen zu verwenden. Das Hauptziel hinter Hilbergs Arbeit ist eher zu zeigen, wie viele Leute am Holocaust beteiligt waren, wie viele Unternehmen und Unternehmer von Enteignungen und Arisierung profitierten.
Wesentliches Merkmal dieser Vernichtung, die am Ende stand, ist das stufenweise Vorgehen. Angefangen von der nicht einfachen Aufgabe, Jüdischsein überhaupt zu definieren, über Enteignung und Vertreibung bis hin zur Vernichtung ab 1939. Die Vernichtung jüdischen Lebens stand so 1933 noch nicht auf dem Programm der NSDAP, sondern entwickelte sich erst über die Zeit. Doch wäre es ohne die direkte und indirekte Beteiligung von Beamten und Verwaltung gar nicht machbar gewesen. Bis hin zur Bereitstellung von Zügen zum Transport der Opfer durch die deutsche Reichsbahn. Der Holocaust war nicht das Werk einiger verwirrter Nazis, sondern eine tief konzertierte Aktion, an der erschreckend viele Leute beteiligt waren. Vor allen Dingen die Wehrmacht, die Herr Gauland doch so bewundert. Von SS und sogar Polizei ganz zu schweigen. Das ist der Kern des Buches. Doch die vielen Details, die Hilberg gesammelt hat, sind erschreckend. Offen gestanden war ich nicht selten erschüttert, zu welchen Grausamkeiten, Absurditäten und Unmenschlichkeiten Leute fähig sind. Denn Hilberg lässt es sich nicht nehmen, anhand von Wehrmacht-Protokollen und Meldungen der Einsatzgruppen in der Sowjetunion das operative Vorgehen zu dokumentieren. Doch auch das Nachspiel ab Mai 1945 findet seinen Platz.
Seiner Aufgabe als Dokumentation und Referenz wird das Buch mehr als gerecht, ein umfangreiches Personen- und Ortsregister erleichtert die Recherche. Bei aller Sachlichkeit, um die sich Hilberg bemüht, sind die vielen Einzelheiten erschütternd. Wie das brutale Vorgehen von SS und Polizei im Rücken der Wehrmacht in Polen und der Sowjetunion, die Geschehen in den Konzentrationslagern, und nicht zuletzt eine Tötungsmaschinerie, die wie eine moderne Fabrik funktionierte. An der weitaus mehr Leute beteiligt waren, als es in der Zeit nach dem Dritten Reich zugegeben wurde.
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