Astrid M. Eckert: Zonenrandgebiet
Das ideale Buch für meinen Kurzurlaub im Wendland. Jüngeren Leuten wird der Begriff nur noch wenig sagen, „Zonenrandgebiet“. Nach der Niederlage des Dritten Reiches wurde Deutschland in vier Zonen aufgeteilt. Die britische, amerikanische und französische Zone wurden schon 1948 zur Trizone zusammen gefasst. Die sowjetische Zone, die SBZ, aus der 1949 die DDR entstand, verblieb getrennt. Die Grenze zur SBZ war die Demarkationslinie, die spätere Grenze zwischen BRD und DDR. Zu Anfang nur ein Stacheldrahtzaun, ab Mai 1952 machte die DDR daraus mit Streckmetall, ab 1961 militärisch mit Selbstschussanlagen und Landminen den Eisernen Vorhang zwischen Ost und West. Straßen und Bahnlinien endeten im Nichts, Landwirte wurden von ihren Feldern getrennt, manchmal verlief diese Grenze sogar durch Häuser oder Seen hindurch. Dadurch wurden Betriebe auf beiden Seiten von Kunden und Lieferanten abgeschnitten, was für sie erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen hatte. Es entstand in der BRD das Zonenrandgebiet, ein ca. 40 Kilometer breiter Streifen, der eigentliche Grenzzaun der DDR lag noch mehrere hundert Meter weiter östlich dieser Linie. Um diesem Gebiet wirtschaftliche Hilfe zu leisten, wurden Steuerbefreiungen, Sonderzahlungen und Subventionen eingerichtet. Was zuerst etwas dröge klingt, wird jedoch bei Astrid M. Eckert zu einer durchaus spannenden Geschichte.
Hatte doch diese Grenze mit den Zäunen in vielfacher Art Auswirkungen, nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet. Sie war auch eine politische Grenze. Während auf der westlichen Seite der Zugang bis zur Grenze beinahe unbeschränkt möglich war, wurde auf der östlichen Seite ein Kilometer breites Gebiet zur Sperrzone. Bewohner wurden umgesiedelt, ganze Dörfer geschleift, die sonst verlassen und aufgegeben die DDR als Ruine und Wüstung aussehen ließen. Hier kamen die beiden Seiten des kalten Krieges zusammen, einschließlich Propaganda und Falschmeldungen, hier bekämpften sich die zwei Beteiligten des Kalten Krieges. Jedoch war die Grenze zwischen Ost und West nicht allein der Grund für ökonomischen Niedergang der angrenzenden Regionen, Gegenden wie die Rhön, das hannoversche Wendland und der bayrische Wald hatten seit Beginn des 20. Jahrhunderts strukturelle Probleme. Industrialisierung, moderne Infrastruktur und wirtschaftlicher Aufschwung waren an ihnen vorbei gegangen, Arbeitsplätze rar, die Abwanderung junger Leute erheblich. Hinzu kamen die vielen Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Krieg, die die Kommunen zusätzlich belasteten. Der Zonenrand galt auf vergessenes Westdeutschland, stellte sich gerne als Armenhaus dar. Die damals neue Grenze war nun ideales Argument, für die Gebiete entlang der Demarkationslinie wirtschaftliche Sonderregelungen zu schaffen, die erst Anfang der Neunziger entfielen. „Zonenrandförderung“ wurde zu einem lange präsenten Thema deutscher Wirtschaftspolitik. Berechtigung und Sinnhaftigkeit waren nicht umsonst häufig umstritten.
Doch nur in einem Teil des Buches geht es um Politik und Wirtschaft. Schon früh hat es das Zonenrandgebiet geschafft, Schwächen in Stärken zu verwandeln. Das Wendland in Niedersachsen wirbt noch heute für sich mit dem Begriff Entschleunigung. Nicht ohne Grund ist das Kartoffelhotel in Lübeln in einem Rundlingsdorf im Kreis Lüchow-Dannenberg von April bis Oktober weitgehend ausgebucht. Die hessische und besonders die bayrische Rhön zählen zu den beliebten Wandergebieten in Deutschland. Abseits von Industrie und Großstädten, in gewisser Weise geschützt durch den Eisernen Vorhang, blieben alte Dörfchen, uralte Wälder und ökologische Nischen erhalten. Doch schon in den Siebzigern wandelte sich gerade das Wendland, als die Zonenrandförderung West-Berlinern über die Transitstrecken und dem nahe gelegenen Hamburg Refugien jenseits der Großstadthektik schuf. Zwischen 10 und 20% der Wohnungen und alten Kotten waren bald fest in Berliner und Hamburger Hand. Genau genommen auch zum Thema Tourismus gehören die Geschehen nach dem 9. November 1989, als nicht nur in Berlin die Mauer fiel, sondern der Grenzzaun zur DDR Löcher bekam. Nicht immer zum Vorteil des Ostens, wie die Autorin ausgiebig zeigt. Das Zonenrandgebiet als mikroskopische Sicht auf die Wende.
Umfangreich ist das Kapitel über ökologische Fragen. Die DDR, gerade in ihren letzten Zügen in den Achtzigern, fuhr ihre Industrie bis an die Grenzen der Belastbarkeit. Beinahe berüchtigt waren die erschreckenden Umweltschäden durch Industrie und Kalibergbaubau in der DDR, die Werra und Weser derart mit Salzen belasteten, dass sich an deren Rändern maritime Pflanzen ansiedelten. Fische gab es leider in diesen Flüssen nicht mehr. Als Trinkwasser waren sie auch nicht mehr zu gebrauchen. Nach 1990 änderte sich das zwar in Nuancen, aber diese Entwicklungen dienen eher als Beweis, dass auch im Westen nicht alles golden ist und die Wiedervereinigung in nicht wenigen Fällen eher eine Übernahme. Zum Glück gibt es genauso positive Beispiele, wie das grüne Band Deutschland von der Ostsee bis nach Tschechien, auch wenn Umweltaktivisten die durch die Grenze entstanden ökologischen Schutzzonen nicht restlos erhalten konnten. Das letzte Kapitel handelt vom Nuklearen Entsorgungszentrum, größtes industrielles Vorhaben der Bundesrepublik. Dieses NEZ sollte den Atomkreislauf zur nuklearen Energiegewinnung mit einer Wiederaufbereitungsanlage und einem Endlager schließen. Notwendig wurde es wegen der Technologie der Schnellen Brüter. Das einzige Atomkraftwerk dieser Art in Kalkar wurde nie gebaut. Angesiedelt werden sollte das NEZ in der Nähe des wendländischen Dörfchens Gorleben. Die Folge war die größte Anti-Atom-Bewegung, die man in Europa jemals gesehen hatte. In der sich linksintellektuelle Zuwanderer, Einheimische und Landwirte zusammen schlossen. Schon 1979 war die Wiederaufbereitung vom Tisch, das Endlager kurze Zeit später auch, weil sich der vorgesehene Salzstock doch nicht als stabil genug erwies. Seit 1990 ist Gorleben nur noch Zwischenlager. Dass dieses NEZ gerade nahe der Grenze der DDR angesiedelt werden sollte, hatte politische und wirtschaftliche Gründe. Die Protest-Bewegung, aus der zeitweise die Republik Freies Wendland entstand, wirkt im Wendland bis heute nach. Und sei es nur als Modellprojekt des ökologischen Landbaus. Wenn sich inzwischen auch zunehmend völkische Rechtsradikale im Wendland niederlassen.
Zuerst habe ich mich gefragt, ob ein Buch über einen Streifen Land, früher Ostgrenze der BRD, heute die Mitte Deutschlands, sonderlich lesenswert ist. Doch Astrid M. Eckert hat so viele Details, Geschichten und sogar Anekdoten von 1945 bis heute zu einer erstaunlichen Geschichte zusammen gefügt, dass man sich wundert, wie wenig über die Zonengrenze und das Zonenrandgebiet bekannt ist. Auf beiden Seiten. Nicht nur in geschichtlicher, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht, auch die Menschen auf beiden Seiten des früheren Eisernen Vorhangs, den Begriff hat Winston Churchill geprägt, spielen eine große Rolle. Ein höchst interessantes Buch über einen heute beinahe vergessenen Landstrich, der einmal immerhin fast ein Fünftel der Fläche der alten Bundesrepublik ausmachte.
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