Lange Zeit waren die sogenannten Reichsbürger eher eine unsichtbare Truppe. Zwei Ereignisse brachten sie mehr in die Öffentlichkeit. Im Dezember 2022 rückten 3.000 Polizisten zu einem der größten Anti-Terror-Einsätze in Deutschland aus, um 137 Wohnungen zu durchsuchen und 25 Leute um Heinrich Prinz Reuß, „Heinrich den XIII.“, Nachfahre eines thüringischen Fürstenhauses, festzunehmen. Die Gruppe wollte den Bundestag stürmen, Politikerinnen und Politiker erschießen und eine neue Regierung einsetzen. Zwei AfD-Abgeordnete gehörten auch zu der spöttisch als „Rollator-Revolte“ bezeichneten Bewegung. Der zweite Fall war Wolfgang Plan. Als Polizisten seine Waffensammlung beschlagnahmen wollten, schoss er durch die Haustür auf sie, ein Beamter starb kurz danach an den Verletzungen. So skurril und wirklichkeitsfremd diese Leute erscheinen mögen, stellen sie doch eine Bedrohung dar, da sie die Bundesrepublik und ihre Repräsentanten und Institutionen als illegitim betrachten, ihre Häuser zu eigenständigen Staaten erklären und in Einzelfällen nicht vor Gewalt zurückschrecken. Tatsächlich gibt es die Reichsbürger seit den Achtziger Jahren, erst ab 2000 bekamen sie auch öffentliche Aufmerksamkeit. Ihre wichtigste Verschwörungserzählung ist, dass die BRD ein Privatunternehmen der Alliierten sei, eigentlich immer noch das Deutsche Reich von 1871 weiter existiere. Man mag zuerst über diese Verwirrten lachen, aber sie werfen tatsächlich juristische Probleme auf. Und Fragen, wie man mit ihnen umgeht.
Als vor vermutlich 160.000 Jahren unsere Vorfahren lernten, das Feuer zu beherrschen, war das ein großer Fortschritt. Man war nicht mehr der Kälte hilflos ausgesetzt und konnte Nahrung bekömmlicher und verdaulicher machen. Das Gehirn profitierte entsprechend, der Rest ist bekannt. Die Öllampen der Römer und ersten Leuchttürme der Griechen waren noch kein Umweltproblem. Kritisch wurde die Sache erst im 19. Jahrhundert, als Maschinen erfunden wurden, die die Produktivität um Potenzen steigerten und in denen man in großem Umfang erst Kohle und Öl, später Gas verbrannte. Aber nicht nur die Betreiber der Maschinen verdienten gut, sondern auch die Leute, die Kohleverbindungen aus dem Boden gruben oder pumpten. Daran hat sich bis heute nichts geändert, noch immer kann man mit Kohle und Erdöl eine Menge Geld verdienen. Seitdem jedoch bekannt ist, dass das beim Zeugsverbrennen entstehende CO2 die Wärmeabstrahlung der Erde behindert und sich die Erde immer mehr erwärmt, kommen diese Leute, fast nur Männer, unter Druck. Also muss man sich etwas einfallen lassen, mit dem man seine Geschäfte ohne Probleme weiter betreiben kann. Da gibt es aber doch Vorbilder für die Industrie der fossilen Brennstoffe. Denn die Tabakhersteller hatten ein ganz ähnliches Problem. Zwar wusste man, dass Rauchen der Gesundheit wenig zuträglich ist, aber es sollte doch möglich sein, die Leute davon abzulenken. Was bis heute hervorragend klappt.
Vielen ist sicher noch das Zitat "Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen Menschen" in Erinnerung. So richtig das Zitat ist, ist es aus dem Zusammenhang gerissen. Der Teil "Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr" davor wird immer weggelassen. Es stammt aus einer Rede von Max Frisch, ist aber eben nur ein Nebensatz. Es ging auch nicht um Deutschland und türkische Gastarbeiter, sondern um Schweizer und Italiener. Die kamen noch vor den Türken in die Alpenrepublik als Türken nach Deutschland, stießen auf Abwehr und Fremdenfeindlichkeit. Besonders berüchtigt waren Männer, denen das Messer in der Tasche locker saß. Nein, eben nicht Muslime in Deutschland, sondern Italiener in der Schweiz. Die ersten Gastarbeiter in Deutschland waren dann auch Italiener, nicht Türken. Die Italiener landeten gesellschaftlich wie in der Schweiz ganz unten. Erst als das Anwerbeabkommen mit der Türkei geschlossen wurde, kamen türkische Gastarbeiter ab 1961 in die Bundesrepublik. Nun standen die Türken ganz unten und die Italiener durften aufsteigen. Diese Eingangsgeschichte wirft in Anpalagans Buch einen Blick zurück, in die Zeit, als das kleine Herrenvolk mit fremden Gebräuchen, Gerüchen und Gerichten konfrontiert wurde. Damals sprach noch niemand davon, Fremdenfeindlichkeit wie auch offener und subtiler Rassismus sei ein Phänomen des rechten Randes im politischen Spektrum. Schon damals waren es Themen der Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft. Bis heute, so Anpalagan.
Die Polykrise der letzten Monate, Putin und Trump, Bundestag, Klima und Ukraine, haben mich eher bei aktuellen Podcasts gehalten. Doch ein neues Buch von Bernhard Pörksen ist ein Wecker, mich mal wieder lesend mit anderen Themen zu beschäftigen. Pörksen beginnt das Buch mit einer Geschichte von Søren Kierkegaard. Ein Zirkuszelt am Rande eines Dorfes, inmitten ausgetrockneter Felder, gerät in Brand. Ausgerechnet den schon geschminkten Clown mit seinen lustigen Schuhen schickt man ins Dorf, um zu warnen und um Hilfe zu holen. So sehr er sich anstrengt, die Gefahr zu schildern, in der das Dorf schwebt, lacht man über ihn und hält sein Erscheinen für einen Gag und für Werbung. Niemand hört ihm zu, was er wirklich zu sagen hat, bis es zu spät ist. Dabei würde man sagen, Zuhören sei doch ganz einfach und alltäglich. Aber hören wir wirklich immer, was uns unser Gegenüber zu sagen hat, hören wir die wirkliche Botschaft? Zuhören, Dialog auf Augenhöhe, sind Schlagworte unserer Zeit, aber nur Leerformeln der politischen Rhetorik. Was heißt denn zuhören, nämlich die eigenen Überzeugungen in Frage stellen oder außenvor lassen, sich der Sicht auf die Welt anderer Menschen auszusetzen? Warum hörte man lange nicht auf die Opfer des sexuellen Missbrauchs in Schulen und in den Kirchen, warum hört man nicht auf die Warnungen vor dem Klimawandel? Pörksen zeigt, welche Mechanismen das Zuhören verhindern, ob im privaten Umfeld oder in der Öffentlichkeit. Und er präsentiert Ansätze und Methoden, die eine neue Offenheit, tieferes Verstehen und empathisches Zuhören ermöglichen. Wie erreicht man, so lautet die Schlüsselfrage, diejenigen, die man nicht mehr erreicht?
Als ich den Klappentext las, war mir nicht mehr wirklich erinnerlich, warum ich dieses Buch bei der Bundesanstalt für politische Bildung bestellt hatte. «Wahn und Wunder – Hitlers Krieg gegen die Kunst». Denn außer zu Musik habe ich zu Kunst keine wirklich innige Beziehung. Diszipliniert, wie ich gelegentlich bin, begann ich zu lesen. Musste dann schon nach kurzer Zeit zugeben, dass ich ein Buch erwischt hatte, das noch einmal neue, unbekannte Aspekte der Naziherrschaft zeigte. Es geht um Kunst, beginnend in der Weimarer Republik, endend, genau genommen, in der Gegenwart. Doch es geht um eine spezielle Kunst und dem, was daraus folgen sollte, in allen Konsequenzen. Um die Kunst von Psychiatrie-Insassen, um "entartete" Kunst, um moderne Kunst, um den Umgang der Nazis mit Kunst und um ihr Verständnis, was Kunst denn sei und wozu gut. Davon nicht zu trennen ist die unsägliche Aktion T4, als die Nazis begannen, Behinderte und psychisch Kranke in ausgewählten Anstalten mit Kohlenmonoxid, überdosierten Medikamenten oder schlichtweg durch Verhungern zu ermorden. Sozusagen als Prototyp des später folgenden Holocausts. Also nicht nur ein Buch über Kunst, sondern viel mehr über Zeitgeschichte. Über die Irren, die bis 1945 frei herum laufen durften. Über eine Zivilgesellschaft, eine Justiz und Kirchen, die wegschauten. Bis es zu spät war.
Denke ich 25 und mehr Jahre zurück, fallen mir eine Menge Krisen ein. Die Ölkrise in den Siebzigern hatte steil ansteigende Benzinpreise zur Folge. Positiv war daran, dass man an einigen Wochenenden mit dem Rad auf der A40 durch das Ruhrgebiet fahren konnte. Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl in 1986. Das Wüten der Roten Armeefraktion ab 1970. Nun finden wir uns Mitte der 2020er auch nicht gerade in einer krisenarmen Zeit, im Gegenteil, redet man aktuell von einer Polykrise. Doch es gibt Unterschiede zum letzten Jahrhundert. Nie war damals die Katastrophe in greifbarer Nähe, drohte der totale Zusammenbruch der Weltwirtschaft. Auch von einem Untergang der Zivilisation wegen des Klimawandels war nicht die Rede, obwohl schon damals Wissenschaftler vor der hemmungslosen Ausbeutung der irdischen Ressourcen warnten. Heute jedoch geht es ständig ums Ganze. Steht die Apokalypse permanent vor der Tür. Warten wir bange auf den Ausbruch des Dritten Weltkrieges wegen des Angriffs Russlands auf die Ukraine. Warum eskalieren die aktuellen Krisen ständig und verstummen die Kassandra-Rufe scheinbar gar nicht mehr? Christian Jakob unterzieht die Erzählungen von der Endzeit einem Faktencheck, nimmt sich die wichtigsten Szenarien vor und natürlich ihre Hintergründe. Die sind, man ahnt es, vielfältig.
Es kann schon vorkommen, dass ich Bücher lese, die schon einige Jahre älter sind. Ein Buch von 1937 ist mir aber noch nicht untergekommen. Ein Nachbar, der seinen riesigen Bücherbestand nach und nach auflöst, schenkte mir dieses Buch, da er mich als "Englandfahrer" kennt. Bücher über England habe ich eigentlich schon reichlich, aber weiteres Material kann ja nie schaden. Wegen des Ausgabedatums, das mitten im Dritten Reich lag, war ich darauf gefasst, für heutige Verhältnisse merkwürdige Formulierungen und Positionen zu finden. Die gibt es auch tatsächlich, waren doch die Leute dieser Zeit noch stark von den deutschen Reichen davor beeinflusst. Das Buch bot sich zudem dafür an, es als Hörbuch zu bearbeiten, da sich scheinbar noch niemand daran gewagt hat. Dabei war ich dann doch etwas überrascht. Denn die Sprache der Nazis findet sich kaum darin, höchstens in andeutenden Nebensätzen, die die Veröffentlichung wohl erleichtern sollten. Dafür beschreibt Stutterheim die englische Kultur, Politik und das Sozialleben in selten zu findenden Details. Überraschend dazu, wie wenig sich in den vielen Jahren seit 1937 in Konventionen, Gebräuchen und Alltagsregeln in England verändert hat.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass ich nach den letzten Seiten eines Buches einen Moment brauche, um das Gelesene zu sortieren. Das ist im Grunde der Sinn der ganzen Leserei, Geschichte, Geschehnisse, die Welt überhaupt, aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Was die ehemalige DDR angeht, dazu den sozialen, politischen und kulturellen Zustand dieser gesamten Bundesrepublik, habe ich mindestens ein Dutzend Bücher bewältigt, von Dirk Oschmann über Steffen Mau, Anne Rabe bis Robert Rauh. Bei allem Bemühen der Autorinnen und Autoren konnte ich bisher nicht wirklich ergründen, warum in Ostdeutschland eine so kritische bis feindselige Einstellung gegenüber diesem Staat entstanden ist, warum die AfD, nun auch das BSW, mit populistischem, völkischem Geschwätz und blödsinnigen Parolen eine so breite Schicht anspricht. Mich interessierte, was denn so unterschiedlich läuft, zwischen Dresden und Köln, Hamburg und Rostock, Annaberg und Gummersbach. Ich verstand einfach nicht, warum Lichtenhagen passierte, was in diesen Leuten auf den PEGIDA-Märschen und bei den Freien Sachsen in den Köpfen vorging. Kowalczuk hat mit «Freiheitsschock» nicht die Antwort auf alles geliefert, aber er hat mir einen Aha-Moment vermittelt. In seinem Buch kommen keine grundlegend neuen Fakten auf den Tisch. Aber so, wie er die Geschichte neu zusammen setzt, ergibt sich ein Verständnis, das ich vorher nicht hatte.
Ilko-Sascha Kowalczuk kann man aktuell kaum entgehen. Kowalczuk im Fernsehen, beim Deutschlandfunk, beim MDR, beim WDR, in HR2 und im Spiegel. Sein Buch «Freiheitsschock» habe ich erst in der dritten Auflage bekommen, so schnell waren die ersten beiden vergriffen. Doch er hat keinen großen Roman geschrieben, nicht mal ein dreibändiges Geschichtswerk, sondern ein Essay. Wenn man so will, einen Aufsatz, eine Betrachtung. Damit entfällt schon einmal das Attribut "objektiv". Kowalczuk kann wohl kaum objektiv sein, in der DDR geboren und aufgewachsen, hat jedoch keine Karriere hinlegen können, weil er nicht genügend an das SED-Regime angepasst war. In diesem Buch schildert er seine Sicht, warum nach 1989 zwischen Ost und West nicht die große Verschwesterung aufkam, warum es bis heute quietscht mit der Einheit, warum Ost- und Westdeutschland nicht in wenigen Jahren zu einer homogenen Nation zusammen kamen. Es geht um die Unzufriedenheit in den neuen Bundesländern, überhaupt um die Unzufriedenheit mit Demokratie und Freiheit im Osten, die aber nicht ein reines Phänomen des Ostens ist. Denn auch in den westlichen Bundesländern erreichen AfD und neuerdings auch das BSW erkleckliche Wählerzahlen. Doch als wesentlich für die Situation im Osten sieht Kowalczuk grundlegende Missverständnisse, die im Osten über den Westen bestanden. Über das, was Freiheit und Demokratie wirklich bedeuten. Sie wollten die D-Mark, Reisefreiheit und Konsum, aber verstanden nicht, dass sie sich nun selbst um ihre Angelegenheiten kümmern mussten, ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Als die Erziehungsdiktatur der DDR endete.
Es seien schon viele Bücher über den Beginn des Lebens und über den Weg in ein gutes Leben geschrieben worden, ebenso über den Tod, meint Barbara Bleisch. Also wäre es Zeit gewesen, ein philosophisches Werk über die Mitte des Lebens zu schreiben, die sogenannten besten Jahre. Sie meint damit das Alter von ca. 50 bis 60 Jahren, also nicht die arithmetische Mitte, sondern die Jahre vor dem subjektiven Alter. Was schwanken kann, manche Leute sind ja bekanntlich schon Mitte 40 steinalt und verknöchert. Und doch wird diese Phase des Lebens bei Männern und Frauen immer noch unterschiedlich gesehen. Zumindest in der männlichen Sichtweise steht diese Zeit, hier greift etwas die Lebensrealität der Autorin, für den Höhepunkt der beruflichen Karriere, die wesentlichen Etappen des Lebens liegen hinter einem, vieles ist erledigt oder bewältigt und es sollte etwas Ruhe und Ausgeglichenheit einkehren. Tatsächlich ist das eher selten der Fall. Diese mittleren Jahre sind oft eine Zeit der Rückschau, was gelungen ist, was erreicht wurde, oder eben daneben gegangen. Nicht zuletzt hadern viele Menschen mit unerreichten Zielen und verpassten Gelegenheiten, geraten in eine 1957 vom kanadischen Psychoanalytiker Elliott Jaques so genannte "midlife crisis". Oder lässt sich dieser Lebensphase noch etwas anderes abgewinnen? Etwas Positives vielleicht?
Wieder ein Buch, auf das ich über WDR 5 gestoßen bin, in der Reihe "Neugier genügt Redezeit". Ein autobiografisches Buch, das den Weg der Autorin Jutta Reichelt nachzeichnet, mehr ein Buch über einen Prozess als über eine Handlung. Geschrieben hat sie das Buch über viele Jahre. Jutta Reichelt war lange der Meinung, ihr Leben sei doch ein ganz normales, sie sei bei ganz normalen Eltern aufgewachsen, in einer ganz normalen Familie. Wenn da nicht seit Kindheit die Angewohnheit wäre Selbstgespräche zu führen. Nicht mal ab und zu, sondern ständig, geradezu wie eine Manie. Als Erwachsene spürt sie, dass sie es nicht schafft, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, diese fühlt sich zerrissen, wie zersplittert an. Ihr Studium der Soziologie bricht sie ab, sie kann sich nicht auf Arbeiten und Referate konzentrieren. Beschließt Schriftstellerin zu werden, obwohl die mangelnde Konzentrationsfähigkeit sie kaum zu Texten über 18 Seiten kommen lässt. Zwar ist ihr schon bewusst, wie sie mit ihren Eltern aufgewachsen ist. Die Mutter emotionslos, desinteressiert und lieblos, der Vater tyrannisch und launisch, der zu viel trinkt. "Emotionale Vollwaise" sei sie gewesen. Insgesamt sind sie vier Kinder, die Beziehung zu ihren Geschwistern ist irgendwie unklar. Erst als sie durch die Vertretung ihres Hausarztes an eine Art Psychotherapie gerät, kommen Aspekte ihres Lebens an den Tag, die ihr zuvor nicht bewusst waren. Erlebnisse, Geschichten, Anekdoten bekommen eine andere Bedeutung. Erst allmählich kommt an den Tag, warum Reichelt gerade so ist, wie sie ist. Es geht um Missbrauch, Traumata und wie brüchig unsere Erinnerungen in Wirklichkeit sind.
Statistisch ist jeder fünfte Mensch ein Chinese. Oder eine Chinesin. Beim Abzählen an der nächsten Kaffeetafel der Familienfeier stellt sich also heraus, dass Onkel Karl Chinese ist. Alter Kalauer. Jetzt mal im Ernst. Wenn ein namhaftes Magazin meldet, dass ein neues Mammographieverfahren die Zahl erkannten Brusttumore um 50% steigert, klingt das doch toll. Werden also bei 1.000 Frauen statt zwei Tumore dann drei Tumore erkannt, sind das 50% mehr. Der relative Wert ist also viel beeindruckender als der absolute Wert, der Eins beträgt. Aber man hat eine tolle Schlagzeile. Deshalb benutzen Medien eben gerne relative Werte statt absolute, die reinen Zahlen. Umweltverbände sagen, dass in Deutschland 15.000 Menschen im Jahr durch zu viel Feinstaub sterben. Woher kommt diese Zahl? Die Todesursache Feinstaub habe ich noch nie gesehen. Naturschützer wollen Windkraftanlagen verhindern, weil die 100.000 Vögel im Jahr "schreddern". Nicht töten oder verletzen, sondern "schreddern". Klingt doch viel grausamer. Aber woher haben die wieder diese Zahl? Aus eigener Beobachtung weiß ich, dass Amseln, Meisen oder Spatzen gar nicht in dieser Höhe fliegen, in der der Rotor selbst bei starkem Wind sechs oder sieben Sekunden für eine Umdrehung braucht. Läuft da jemand durch die Gegend und zählt tote Vögel unter Windrädern? Oder werden da Statistiken erzeugt, die entweder zusammen phantasiert oder mit aberwitzigen Rechenkunststückchen die Aufmerksamkeit steigern? Die Autoren haben deshalb nun nach ihrem ersten Buch noch einmal nachgelegt. Es geht um Mathematik und Statistik, obwohl der Titel des Buches den entsprechenden Ernst vermissen lässt.
Romane lese ich ja eher selten. Wenn, dann greife ich gerne auf bekannte Autoren zurück, in diesem Fall auf Juli Zeh. Ihr Roman «Unter Menschen», der mir in Stil und Erzählweise gefallen hatte, führte zum Griff zu einem weiteren Buch von ihr. Allerdings kein ganz neues Werk, sondern schon aus 2016. Die Geschichte spielt wieder in der Brandenburgischen Landidylle, die in Wirklichkeit keine Idylle ist. Wieder geht es um ein Dorf, mit Einheimischen und Zugewanderten, mit der ganz eigenen Dorfgeschichte. Jedoch um keine einzelne Person, die aus einer Ich-Perspektive erzählt, sondern um eine Sicht eines Erzählers. Um die Gegensätze zwischen Alteingessenen und neu zugezogenen Berliner Aussteigern, die mit der Selbstgerechtigkeit und Arroganz der Wessis und wenig Sensibilität in alle Fettnäpfchen der Provinz latschen. Da geht es auch noch um den untergründig schwelenden Konflikt zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern. Über der Geschichte steht quasi als Leitlinie ein invertiertes Zitat aus dem Faust, das lautet: "Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft". Dass ein idyllisches Dorf genauso die Hölle sein kann, zeigt sich durch Pläne für den Bau einer Windkraftanlage nahe dem Dorf Unterleuten. Ein Phantasieort, in der Verfilmung ein Dorf im Märkisch-Oderland. Insgesamt mehr als 18 erwachsene Personen, teils lebendig, teils verstorben, sind die Besetzung. Was es am Anfang nicht einfach macht, der Story zu folgen. Doch gerade die Interaktionen und Beziehungen zwischen all den Menschen machen den Reiz der Geschichte aus. Eine wirklich gelungene Geschichte.
Das ideale Buch für meinen Kurzurlaub im Wendland. Jüngeren Leuten wird der Begriff nur noch wenig sagen, "Zonenrandgebiet". Nach der Niederlage des Dritten Reiches wurde Deutschland in vier Zonen aufgeteilt. Die britische, amerikanische und französische Zone wurden schon 1948 zur Trizone zusammen gefasst. Die sowjetische Zone, die SBZ, aus der 1949 die DDR entstand, verblieb getrennt. Die Grenze zur SBZ war die Demarkationslinie, die spätere Grenze zwischen BRD und DDR. Zu Anfang nur ein Stacheldrahtzaun, ab Mai 1952 machte die DDR daraus mit Streckmetall, ab 1961 militärisch mit Selbstschussanlagen und Landminen den Eisernen Vorhang zwischen Ost und West. Straßen und Bahnlinien endeten im Nichts, Landwirte wurden von ihren Feldern getrennt, manchmal verlief diese Grenze sogar durch Häuser oder Seen hindurch. Dadurch wurden Betriebe auf beiden Seiten von Kunden und Lieferanten abgeschnitten, was für sie erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen hatte. Es entstand in der BRD das Zonenrandgebiet, ein ca. 40 Kilometer breiter Streifen, der eigentliche Grenzzaun der DDR lag noch mehrere hundert Meter weiter östlich dieser Linie. Um diesem Gebiet wirtschaftliche Hilfe zu leisten, wurden Steuerbefreiungen, Sonderzahlungen und Subventionen eingerichtet. Was zuerst etwas dröge klingt, wird jedoch bei Astrid M. Eckert zu einer durchaus spannenden Geschichte.
Mit gut 1.400 Seiten ist das Buch «Die Vernichtung der europäischen Juden» eher nicht zum Lesen gedacht. Sondern es ist eine Dokumentation und Referenz. Lediglich die ersten Kapitel über die historischen Hintergründe des Antisemitismus und die Rolle und Bedeutung der Juden sind linear angelegt und machen verständlich, wann und warum der Antisemitismus überhaupt entstand. Also bestimmt kein Werk, das man von vorn nach hinten durchliest. Aufgrund anderer Rezensionen und Stellungnahmen hatte ich erst etwas Zweifel, wie weit das Buch überhaupt relevant ist, wie weit es auf Tatsachen beruht. Ob es eher eine Interpretation ist. Am Ende sind geschichtliche Betrachtungen aber immer Interpretationen, wichtig sind deshalb die Gründe, warum der Autor zu bestimmten Schlüssen gekommen ist. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, warum das Buch stark in der Kritik stand. Ähnlich wie die Funktionalisten unter den Historikern, namentlich Martin Broszat, Hans Mommsen und Christopher Browning, deutete Raul Hilberg den Entschluss zum Holocaust als prozesshaften Vorgang einer kumulativen Radikalisierung, der allerdings ohne die Person Hitlers nicht denkbar gewesen wäre. So schafft das Buch nicht nur einen detaillierten Blick auf die Vernichtung der Juden in ihren Details, sondern widerspricht zugleich vielen Mythen, die um den Holocaust gesponnen werden. Die Deutschen hätten nichts davon gewusst, die Wehrmacht sei immer sauber geblieben und es seien ja nur die SS und Gestapo beteiligt gewesen. Eben nicht.
Noch ein Buch über den Osten, das Billy-Regal droht zusammen zu brechen. Langsam hätte ich eine Tendenz, Bücher zu diesem Thema zu ignorieren. Wenn dann nicht der Autor Steffen Mau hieße, den ich aus anderen Veröffentlichungen schon kenne. Findet Steffen Mau noch andere Aspekte in der Sache? Im Rahmen des Möglichen schafft er das durchaus. Dazu geht Mau auf Daten und Fakten ein, die zwar im Grunde bekannt, aber selten wirklich bewusst sind. Nämlich die Unterschiede zwischen Ost und West hinsichtlich Sozialstruktur, Demografie, Fragen der Demokratie, Geschichtsverständnis und Identitätspolitik. Malt man nun eine Karte der Bundesrepublik mit allen Bundesländern, färbt man die Länder unter diesen Aspekten ein, so ist immer noch zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland die ehemalige Zonengrenze deutlich sichtbar. Nun stellt sich die Frage, was man mit diesen Erkenntnissen macht, die Mau in den ersten sechs Kapiteln des Buches im Detail beschreibt. Hier hat Mau etwas Unerwartetes in der Tasche, das er im letzten Kapitel hervor zaubert. Er hat tatsächlich Ideen, wie man die historisch und politisch gewachsenen Unterschiede zwischen dem westlichen und östlichen Teil Deutschlands angehen kann. Das klingt sogar richtig gut und machbar. Ich wäre auf jeden Fall dabei.
(Einen Beitrag von Steffen Mau zum Thema findet man auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung.)
Juli Zehs Roman «Über Menschen» hatte es mir schon ziemlich angetan. Da ich mir das aktuelle 1.400 Seiten-Monsterbuch nur nach und nach erarbeite, brauche ich zwischendurch Auszeiten. Also mal wieder ein Roman. Theresa und Stefan haben einmal zusammen gewohnt, sind dann aber getrennte Wege gegangen. Nach über 20 Jahren treffen sie sich zufällig wieder. Stefan ist Redakteur in einem Hamburger Magazin, Theresa hat den Hof von ihrem Vater in Brandenburg übernommen. Zwei Welten treffen auf einander, hier der immer mit Gendersternchen schreibende Journalist mit Gutmenschentum, dort die mit den Problemen der Landwirtschaft ausgelastete Landwirtin. Ein persönliches Treffen in Hamburg endet im Desaster. Trotzdem tauschen sie sich weiter aus, über Messenger und E-Mail. Streiten sich, belehren sich, machen die Spaltung der Gesellschaft greifbar. Eher unerwartet eskalieren die beiden Geschichten. Ein unbedachter Spruch des Chefredakteurs des "BOTEN" über eine neue Kollegin führt zum existenzgefährdenden Shitstorm, ausbleibender Regen und der Brand einer Trockungsstrecke für die Biogasanlage sind nur die Vorboten der weiteren Entwicklungen. Juli Zeh und Simon Urban nehmen sich die komplette heutige Lebenswelt im Digitalen und Analogen vor.
Ein früherer Entschluss von mir war, Bücher, die ich jetzt nicht so lesenswert fand, nicht zu rezensieren. Diese Zurückhaltung habe ich seit einem Buch von T. C. Boyle aufgegeben. Auch bei Elke Heidensreichs Buch «Altern» blieb ich am Ende mit der Frage zurück, was mir das Buch eigentlich sagen wollte. Trotz des Papperls(*) der SPIEGEL-Bestenliste. Elke Heidenreich erzählt ihr Leben, ihre Erfahrungen mit dem Alter, wie ihr Leben im Alter heute, mit über Achtzig, aussieht. Wie sie lebt, was ihr noch wichtig und was ihr unwichtig ist. Dazu besteht das Buch zu fast einem Drittel aus Zitaten aus anderen Büchern, deren Zusammenhang mit dem umgebenden Text eher nebulös bleibt. Dass das Buch auf der SPIEGEL-Liste erscheint, ist wohl eher der Popularität der Autorin geschuldet, der Inhalt ist weder Autobiografie, noch nähert er sich dem Thema mit allgemeinem Bezug. Mir ist nicht einmal ein Untertitel dazu eingefallen, außer vielleicht "Elke Heidenreich erzählt aus ihrem Leben". Trotzdem ich selbst nicht mehr der Jüngste bin, konnte ich weder Heidenreichs Erkenntnisse noch die Zitatsammlung verwerten. Sorry für die Offenheit, aber dieses Buch kann man sich einfach sparen.
(*) Bayrisch: Aufkleber
Wenn man möchte, kann man mit Büchern über die DDR, die Wiedervereinigung und die Jahre danach ein großes Billy-Regal 80 x 220 bestücken. Auch bei mir sind eine ganze Menge Bücher zu diesen Themen zusammen gekommen. Eines kann man sich allerdings abschminken: die eine Erkenntnis, warum es so gelaufen ist, was falsch war, warum der Osten noch heute so anders tickt als Lüdenscheid oder Freilassing. Und doch habe ich mir ein weiteres Buch der BPB zum Thema angetan. Dieses ist tatsächlich anders als viele andere Beiträge. Einmal stammt es aus der französischen Forschung, dann geht es anders vor, dazu sind die Schwerpunkte anders gelegt. Entstanden ist es über den Weg der "Oral History" mehrerer Wissenschaftler, was mehr ist als nur mündliche Berichte über die Vergangenheit. Es ist eine andere Form der Interviewtechnik. 30 Menschen erzählten ihre Lebensgeschichte in der DDR und was im Nachhinein davon übrig blieb. In diesem Sinne ist «Die DDR nach der DDR» nicht die Sicht von oben, also von Staat, Politik und System nach unten, sondern aus dem Erleben von ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern nach oben. Damit ergeben sich andere Sichtweisen und Interpretationen, wird die Fokussierung der Betrachtungen auf den real existierenden Sozialismus anders gelegt. Am intensivsten werden auch nicht Wirtschaft und Politik betrachtet, sondern Kultur, Kunst, Privatleben, Alltagserfahrungen. Ich muss zugeben, öffnet das Buch doch noch neue Sichten und Sichtweisen auf die DDR. Und was von ihr übrig blieb. Und warum.

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Man sollte Wissenschaftlern, bevor sie Bücher schreiben, eine journalistische Grundausbildung verpassen. Sonst passiert nämlich das, was diesem Buch passiert: Zwei bzw. drei der fünf Kapitel des Buches sind für Leserinnen und Leser ohne den entsprechenden Hintergrund schlichtweg unverständlich. Das mag für Bücher auf dem freien Markt noch angehen, für Bücher in der Bundeszentrale für politische Bildung eher unangebracht. Dann zum Inhalt. Den Bedeutungsverlust der Sozialdemokratie kann man auf veränderte Gesellschaftsstrukturen zurückführen. Die klassische Zweiteilung in Arbeit und Kapital hat eben in einer Dienstleistungsgesellschaft kaum noch Berechtigung. Doch auch die konservativen Parteien, CDU/CSU, die Tories in Großbritannien oder die Democrazia Christiana in Italien haben Federn lassen müssen. Wenn sie nicht sogar auf Kleinparteien geschrumpft sind, wie in Frankreich. Wo doch gerade die Christdemokraten nicht nur in der Bundesrepublik viel dazu beigetragen haben, nach dem zweiten Weltkrieg einen liberalen und demokratischen Staat aufzubauen. Konservative Parteien sind auf dem absteigenden Ast, wenn auch in Deutschland nicht ganz so drastisch. Biebricher geht es zwar auch um die Union hier in der BRD, aber insgesamt um die Konservativen in Italien, Frankreich und Großbritannien, warum diese zum Teil in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht sind. Was Konservatismus eigentlich ist, beschreibt Biebricher schon in der Einleitung sehr plakativ: "Das Problem besteht darin, dass Konservative typischerweise nicht eigentlich das Bestehende zu verteidigen versuchen, wie es ihrem Selbstverständnis entspricht, sondern das Vergehende." Das klingt danach, dass es interessant werden könnte. Wird es aber nur zum Teil.
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