Thomas Biebricher: Mitte/Rechts

Man sollte Wissenschaftlern, bevor sie Bücher schreiben, eine journalistische Grundausbildung verpassen. Sonst passiert nämlich das, was diesem Buch passiert: Zwei bzw. drei der fünf Kapitel des Buches sind für Leserinnen und Leser ohne den entsprechenden Hintergrund schlichtweg unverständlich. Das mag für Bücher auf dem freien Markt noch angehen, für Bücher in der Bundeszentrale für politische Bildung eher unangebracht. Dann zum Inhalt. Den Bedeutungsverlust der Sozialdemokratie kann man auf veränderte Gesellschaftsstrukturen zurückführen. Die klassische Zweiteilung in Arbeit und Kapital hat eben in einer Dienstleistungsgesellschaft kaum noch Berechtigung. Doch auch die konservativen Parteien, CDU/CSU, die Tories in Großbritannien oder die Democrazia Christiana in Italien haben Federn lassen müssen. Wenn sie nicht sogar auf Kleinparteien geschrumpft sind, wie in Frankreich. Wo doch gerade die Christdemokraten nicht nur in der Bundesrepublik viel dazu beigetragen haben, nach dem zweiten Weltkrieg einen liberalen und demokratischen Staat aufzubauen. Konservative Parteien sind auf dem absteigenden Ast, wenn auch in Deutschland nicht ganz so drastisch. Biebricher geht es zwar auch um die Union hier in der BRD, aber insgesamt um die Konservativen in Italien, Frankreich und Großbritannien, warum diese zum Teil in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht sind. Was Konservatismus eigentlich ist, beschreibt Biebricher schon in der Einleitung sehr plakativ: „Das Problem besteht darin, dass Konservative typischerweise nicht eigentlich das Bestehende zu verteidigen versuchen, wie es ihrem Selbstverständnis entspricht, sondern das Vergehende.“ Das klingt danach, dass es interessant werden könnte. Wird es aber nur zum Teil.

Biebricher zeichnet nach, wie sich die Parteien der rechten Mitte, die gemäßigten Konservativen, seit Ende der Achtziger entwickelt haben, welche Wählerschaft sie erreichten und wie sich ihre politische Orientierung verändert hat. Dies macht er anhand der Länder Italien, Frankreich und Großbritannien. Nach einem einleitenden Kapitel, das erst einmal definiert, wie der Autor diese Parteien versteht, wie sie agieren und wie sie sich im Parteienspektrum positionieren. Diese drei Länder sind keineswegs zufällig gewählt, sondern stellen zusammen mit Deutschland die vier ökonomisch stärksten europäischen Staaten dar. Er vergleicht also Länder, die sich einerseits politisch stark unterscheiden, aber innerhalb der Wirtschaft durchaus vergleichbar sind. Leider hat sich Thomas Biebricher verkniffen, diese Länder erst einmal hinsichtlich ihrer politischen Struktur vorzustellen. Denn das politische System der drei Staaten könnte unterschiedlicher nicht sein. Man kann zwar einige Entwicklungen aus den eigenen Erinnerungen nachvollziehen. Angefangen von Berlusconi und Dragi bis zur Lega Nord und den Fratelli d’Italia, oder die Ergebnisse der unerwarteten Wahl des Parlamentes in Frankreich 2024 und die Rolle von Marine Le Pen. Aber wenn man nicht weiß, wie der italienische und französische Staat strukturiert sind, bleiben diese Kapitel überwiegend unverständlich. Lediglich im Falle Großbritannien konnte ich wieder auftauchen, da ich in politischer Hinsicht das Land fast so gut kenne wie Deutschland. Die Zusammenfassung der Stationen von Thatcher über den Taschenspielertrick namens Brexit des David Cameron bis zu Liz Truss ist als Londoner Kapitel insgesamt verständlicher, da der Westminster-Parlamentarismus simpler ist als die zerfaserte Parteienlandschaft Italiens.

Im letzten Kapitel fasst Biebricher die Erkenntnisse aus den drei Ländern zusammen und überträgt diese Sichten auf Deutschland. Das wird, zusammen mit dem ersten Kapitel, wieder ein Stärke des Buches. Kurz zusammen gefasst: Nicht nur in Deutschland, sondern auch in den anderen Ländern, zeichnen sich rechts-konservative Parteien dadurch aus, dass sie in der Hauptsache reagieren. Visionen, Programmatik und langfristige Ziele sind Konservativen eher fremd. Im Vergleich zu Mitte/Links- und linken Parteien. Deshalb sind Feindbilder und Gegner für Konservative wichtige Orientierungen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Paktes verloren gerade die Konservativen diese Feindbilder. So sucht man sich dann neue. Da bieten sich Kulturkampf, EU, Wokismus, die Grünen, die Migranten, Gendern oder sonstige Themen an. Hauptsache der Gegner ist klar. Nur geschieht dann das, was man bei Leuten wie Markus Söder oder Friedrich Merz beobachten kann. Sie tummeln sich damit auf den Argumentationsfeldern, die schon von rechten oder rechtsextremen Kräften beackert werden. Mit wirtschaftsliberalen Themen kommt man dann der FDP in die Quere. So bugsiert man sich zwischen alle Stühle. Biebricher analysiert diese Entwicklungen sehr intensiv und im Detail, wie sich die Konservativen im Grunde selbst ins Aus manövrieren. Weil es ihnen ohne klare Ziele für die Zukunft, ohne Visionen schwer fällt, ihren Zweck noch zu belegen. Natürlich geht diese Abschlussbetrachtung im Buch noch weiter und in viele weiteren Einzelheiten.

So hinterlässt das Buch einen Nachgeschmack. Erstes und letztes Kapitel sind wirklich erhellend und aufschlussreich. Die drei Kapitel über Italien, Frankreich und Großbritannien sind jedoch nur Insidern verständlich. Hätte man jedem Land einen Abschnitt vorangestellt, wie das Land politisch strukturiert ist, wer wann und wie gewählt wird, wer den Präsidenten oder Ministerpräsidenten bestellt etc. pp., wären die Kapitel wesentlich verständlicher geworden. Jedenfalls, was das nicht spezialisierte Publikum betrifft. So aber arbeitet man sich durch drei, bei mir zwei, Kapitel eher mit langen Zähnen hindurch. Obwohl man die Erkenntnisse gerne mal den Herren Söder, Linnemann oder Merz verordnen würde.

Thomas Biebricher (* 1974) ist ein deutscher Politikwissenschaftler. Er lehrt als Heisenberg-Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zuvor war er Associate Professor an der Copenhagen Business School (CBS). Biebricher wurde 2003 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit einer Dissertation zur „Selbstkritik der Moderne. Habermas und Foucault im Vergleich“ promoviert. […] Danach war er sechs Jahre als DAAD-Dozent an der University of Florida in Gainesville tätig. Er übernahm verschiedene Positionen an Hochschulen, von 2009 bis 2012 als Leiter einer Nachwuchsforschergruppe am Exzellenzcluster Normative Orders an der Universität Frankfurt am Main. Dort habilitierte er sich 2019 mit der Arbeit «The Political Theory of Neoliberalism». […] Seit Sommer 2020 war er an der CBS in Kopenhagen und seit Sommer 2022 ist er Heisenberg-Professor in Frankfurt. In seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Ursachen und Inhalten neoliberaler Politik bezieht er sich auf wirtschaftswissenschaftliche Theoretiker des Ordo- und Neoliberalismus, wie Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Friedrich August von Hayek, Milton Friedman oder James M. Buchanan.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Thomas Biebricher aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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