Agnès Arp/Élisa Goudin-Steinmann: Die DDR nach der DDR

Wenn man möchte, kann man mit Büchern über die DDR, die Wiedervereinigung und die Jahre danach ein großes Billy-Regal 80 x 220 bestücken. Auch bei mir sind eine ganze Menge Bücher zu diesen Themen zusammen gekommen. Eines kann man sich allerdings abschminken: die eine Erkenntnis, warum es so gelaufen ist, was falsch war, warum der Osten noch heute so anders tickt als Lüdenscheid oder Freilassing. Und doch habe ich mir ein weiteres Buch der BPB zum Thema angetan. Dieses ist tatsächlich anders als viele andere Beiträge. Einmal stammt es aus der französischen Forschung, dann geht es anders vor, dazu sind die Schwerpunkte anders gelegt. Entstanden ist es über den Weg der „Oral History“ mehrerer Wissenschaftler, was mehr ist als nur mündliche Berichte über die Vergangenheit. Es ist eine andere Form der Interviewtechnik. 30 Menschen erzählten ihre Lebensgeschichte in der DDR und was im Nachhinein davon übrig blieb. In diesem Sinne ist «Die DDR nach der DDR» nicht die Sicht von oben, also von Staat, Politik und System nach unten, sondern aus dem Erleben von ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern nach oben. Damit ergeben sich andere Sichtweisen und Interpretationen, wird die Fokussierung der Betrachtungen auf den real existierenden Sozialismus anders gelegt. Am intensivsten werden auch nicht Wirtschaft und Politik betrachtet, sondern Kultur, Kunst, Privatleben, Alltagserfahrungen. Ich muss zugeben, öffnet das Buch doch noch neue Sichten und Sichtweisen auf die DDR. Und was von ihr übrig blieb. Und warum.

Agnès Arp/Élisa Goudin-SteinmannDie DDR nach der DDR

Die Autorinnen beschäftigen sich auch mit der wirtschaftlichen Entwicklung nach 1989/1990, aber überwiegend mit der Kunst und Kultur sowie dem Alltagsleben in und nach der DDR. Ihre Betrachtungsweise ist anders als in vielen Büchern deutscher Herkunft. Die andere Haltung spiegelt sich am besten mit der Feststellung, dass man ja nicht von seinem früheren Großvater spricht, wenn der verstorben ist. Dass „die DDR“ bis heute nachwirkt. Die DDR sei zwar ein historischer Abschnitt gewesen, aber jede Entwicklung und jede Zeitlinie setzt sich in die Gegenwart fort. Das ist dann sowohl Titel des Buches als auch Standpunkt. Eben die Frage, wie die DDR für die Menschen, die in ihr gelebt haben, weiter wirkt. Ebenso vermeiden die Autorinnen das Schwarzweißbild, die DDR sei nur Diktatur und Überwachungsstaat gewesen. Neben diesem Staat gab es ein Alltagsleben, das Abtauchen in Nischen in den Familien und selbst unter Arbeitskolleginnen und -kollegen. Getreu der Differenzierung, dass eine „Diktatur der Grenzen“ immer auch „Grenzen der Diktatur“ enthält. Ein weiterer wichtiger Punkt, warum Familie, Freunde und Nachbarn ein Rückzugsfeld waren, warum die Gesellschaft der DDR bis heute als solidarischer, freundschaftlicher und zuverlässiger beschrieben wird. Als hemmungsloser Konsum und Geld noch nicht die Bedeutung hatten wie nach dem Übergang in eine marktliberale und statusorientierte Gesellschaft. Was bedeutet Reisefreiheit, wenn man sich bei 20% Arbeitslosigkeit und Hartz IV das Reisen gar nicht erlauben kann? Enttäuschte Erwartungen allerorten.

Es geht dabei nicht darum, sich die DDR schön zu schminken. Die brutale, menschenverachtende Dauerüberwachung soll nicht klein geredet werden. Hatte dieser deutsche Staat aber in sozialen Leistungen und gemeinschaftlichen Möglichkeiten jedoch deutlich mehr zu bieten als die BRD. Frauen waren gleichberechtigter, Mädchen in den Schulen anerkannter, in den PISA-Studien schneiden die Mädchen im Osten so gut oder schlecht ab wie die Jungen. Am Ende war es eine Bevormundungs-Diktatur, paternalistisch, grausam. In den Gesprächen wird jedoch auch deutlich, wie überschaubar und verlässlicher der Realsozialismus war, dem schon einige Menschen hinterher trauern. Als dann 1990 die jungen und flexiblen Menschen sich ganz fix umstellten und das Beste aus dem neuen Leben zogen, während die Ü40er zurück blieben, orientierungslos, mit entwerteten Lebensleistungen, verwirrt von dieser neuen Welt. Auch und gerade an diesen Stellen wird deutlich, dass die von Helmut Kohl geradezu rücksichtlos durchgezogene Wiedervereinigung den meisten Leuten den Boden unter den Füßen weg zog. Die Konföderation wäre eine bessere Antwort gewesen. Doch der größte Fehler war offensichtlich der Anschluss nach § 23 GG. Es war eine Minderheit, die nicht die D-Mark und Karstadt wollten, sondern einen sozialistischen, gerechten und freien Staat. Aus DDR und BRD einen neuen Staat zu schaffen, mit einer neuen Verfassung, mit dem Besten aus beiden Welten, das wäre der Weg gewesen. Statt die „feindliche Übernahme“ der DDR durch die BRD. Die Geschichte der Wende, der Transformation, ist eine lange Geschichte der verpassten Möglichkeiten. Selten habe ich das in einem Buch über die DDR und danach gefunden.

Der große Wert des Buches liegt im Vermeiden des bundesdeutschen Schwarzweiß-Malens. Es spiegelt auch nicht einfach die Meinung der Autorinnen wider, sondern basiert auf der Oral History von früheren DDR-Bürgerinnen und -Bürgern. Natürlich ist das immer auch Interpretation, jedoch ist das, was das Buch nach vorne holt, in vielen bundesdeutschen Betrachtungen und Analysen ebenso zu finden. Die französischen Sichtweisen weichen nicht großformatig von den meisten deutschen ab. Jedoch, wie man so schön sagt, macht der Ton die Musik. Und da wirkt der französische Ton deutlich klarer und feinsinniger, blickt viel mehr auf Details, lässt den eigentlichen Protagonisten viel mehr Raum. Also ab ins Billy, mit dem Stempel „lesenswert“.

Agnès Arp wurde  1973 in Paris geboren, studierte Philosophie, Auslandsgermanistik und Geschichte in Paris, Leipzig sowie in Berlin. In 2006 schloss sie in Paris und Jena ihre Promotion über die Lebensgeschichten der Privatunternehmer in der DDR ab. Agnès Arp lebt und arbeitet seit über 20 Jahren in den neuen Bundesländern. Ihre besonderen Schwerpunkte in der Forschung sind die so genannte Oral History, die neueste deutsche Geschichte, speziell die DDR und die Transformationszeit und narrative Medizin.

Dr. Élisa Goudin-Steinmann ist seit 2003 Dozentin für zeitgenössische Geschichte und deutsche Studien an der Sorbonne-Nouvelle in  Paris. Sie ist Mitherausgeberin des Blogs »Blicke auf die DDR und die neuen Bundesländer«. 

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