Gerd Gigerenzer: Risiko
Bestimmt haben Sie auf Ihrem Smartphone auch eine Wetter-App. Neben der Wetterprognose wird dort eine sogenannte Regenwahrscheinlichkeit angegeben, nämlich in Prozent. Aber was sagt die Zahl 40% aus? Dass es mit einer Wahrscheinlichkeit von 40% regnen wird? Oder dass die Meteorologen zu 40% mit ihren Voraussagen richtig lagen? In Wikipedia liest sich das so: „Eine prognostizierte Regenwahrscheinlichkeit für den 1. November von 100 % für die Stadt Wuppertal bedeutet, dass es bei vergleichbaren Wetterlagen (Luftdruck, Windrichtung, Luftmassen usw.) in der Vergangenheit immer irgendwo in Wuppertal geregnet hat, so dass es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch am 1. November im Stadtgebiet regnen wird. Daraus lässt sich demnach nicht ableiten, dass es den ganzen Tag (100 % des Zeitraumes) regnen wird oder dass es überall in Wuppertal regnen wird (100 % des Vorhersagegebietes).“. Heißt, dass die Voraussage für Bielefeld in Paderborn wenig hilft. Selbst in Bielefeld ist sie schwer zu verstehen. Damit eigentlich nutzlos.
Anderes Beispiel für die Verwirrung durch Zahlen. Als in Großbritannien die dritte Generation der Antibabypille eingeführt wurde, berichtete der britische Gesundheitsdienst, dass sich mit diesem neuen Medikament die Zahl der Thrombosefälle gegenüber der Vorversion verdoppelt habe. Genauer um 100% gestiegen sei sie. In absoluten Zahlen gab es zuvor bei 1.000 Frauen, die sie nahmen, einen Thrombosefall. Mit der dritten Pillengeneration waren es nun zwei. Bei wieder 1.000 Frauen. Dafür stieg in Großbritannien zu dieser Zeit die Zahl an Abtreibungen und ungewollten Schwangerschaften erheblich. Weil viele Frauen durch die genannten Zahlen abgeschreckt wurden. Gegen dieses Unwissen über und Unverständnis für tatsächliche oder vermutete Risiken schreibt Gerd Gigerenzer an. Und liefert damit ein faszinierendes Buch.
Die Unwissenheit beginnt damit, dass nicht nur Laien, sondern auch Wissenschaftler und Spezialisten, nicht zwischen Risiko und Ungewissheit unterscheiden können. Während bei einer Lotterie das Risiko klar umrissen werden kann, nämlich Verlust des Einsatzes oder Gewinn des Jackpots und dazwischen, ist der Gewinn beim Kauf eines Aktienpaketes ungewiss. Denn es gibt zu viele Faktoren, die das Resultat beeinflussen, von der Entwicklung der Unternehmen über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung bis hin zum Auftreten von Pandemien oder Naturkatastrophen. Risiko versus Ungewissheit zu unterscheiden, gelingt selbst Prof. Dr. selten. Der Versuch, solche komplexen Vorgänge mit immer komplexeren Methoden berechnen zu wollen, ist nicht nur einfach gescheitert. Es hat sich herausgestellt, dass simple Faustregeln und intuitive Entscheidungen zu wesentlich besseren Ergebnissen führen. Überhaupt ist die Interpretation von Daten, die darin enthaltene Evidenz und die Schlussfolgerungen selbst den beteiligten Leuten ein Rätsel. Ärzte verstehen nicht, was die Ergebnisse von vorsorgenden Tests und Screenings wirklich bedeuten. Finanzspezis stellen hanebüchene Vermutungen über die Zukunft von Finanzprodukten auf. Siehe Bankenkrise 2008, die Banker verzockten sich spektakulär, obwohl schon ein paar alte Faustregeln der alten Banker das verhindert hätten. Gerade durch Beispiele aus der Medizin und dem Finanzsystem zeigt Gigerenzer, dass selbst hochbezahlte Manager an einfachen Aufgaben scheitern, weil sie die falschen Methoden anwenden und die Zahlen nicht verstehen.
Da werden teure und nutzlose medizinische Zusatzleistungen verkauft, die dem Patienten sogar schaden können. Dafür wissen die Ärzte oft selbst nicht, was die Ergebnisse bedeuten und welche Schlüsse zu ziehen sind. Gerade die Beispiele für überragendes Scheitern unserer hochdekorierten Akademiker, wo Schüler durch entsprechende Verfahren bessere Ergebnisse erzielen, ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Gigerenzers Ziel ist nicht das Vermeiden von Risiken oder Ungewissheiten, sondern das Verstehen dieser beiden Begriffe und wie man mit welchen Methoden heran geht. Er will einen risikokompetenten Bürger, der mit den Anforderungen in unserer immer risikoreicheren Welt zurecht kommt. Nicht durch Mathematik oder komplexe Lösungsstrategien, sondern durch den Rückzug auf Kants Prinzip „Bediene Dich Deines Verstandes“. Dass das möglich ist, zeigt er an vielen Beispielen, wie Risiken klar und verständlich kommuniziert werden können, so dass schon Kinder es verstehen. Das Problem seien nicht die Risiken, sondern wie sie an die Menschen vermittelt werden.
Gigerenzer nennt sein Buch bewusst ein Sachbuch, aber kein Fachbuch. Anhäufungen von Fremdwörtern, langwierige theoretische Betrachtungen oder Zahlenkolonnen vermisst man in seinem Buch komplett. Stattdessen vermittelt er profundes Wissen, wie wir mit Risiken umgehen sollen, welche Strategien sinnvoll sind. Auch damit wir Ärzten und windigen Finanzhaien nicht mehr ausgeliefert sind. Zielgruppe des Buches ist jeder zwischen 18 und 88. Besser schon ab 14. Mathematik- und Statistikwissen reicht aus der Hauptschule. Nur denken muss man noch selbst. Auch dieses Buch sollte Pflichtlektüre in den Schulen werden, nur so kommen wir wirklich zu mündigen und autarken Menschen.
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