Michael J. Sandel: Vom Ende des Gemeinwohls

Mit ins Deutsche übersetzten Büchern amerikanischer Autoren tue ich mich manchmal schwer. Es sei denn, es geht um Musiktheorie oder Physik. Zu unterschiedlich sind, trotz aller politischen und wirtschaftlichen Parallelen, Werte und soziale Normen in Deutschland und den USA. Auch Michael J. Sandels Buch über das Ende des Gemeinwohls fußt auf amerikanischen Verhältnissen und der amerikanischen Geschichte. Besonders in diesem Fall den Verhältnissen an Universitäten und der Gesellschaft jenseits des Atlantiks. So konzentriert sich Sandel auf die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, der Machtverhältnisse und wirtschaftlichen Lage in seinem Land. Also zuerst gesehen fern der bundesdeutschen Realität, könnte man meinen. Doch es täuscht. Sandel liefert eine gelegentlich etwas abgehobene, detailverliebte und dann wieder sehr feinsinnige Analyse, warum Brexit, Donald Trump und Rechtpopulismus weltweit solche Siegeszüge antreten konnten. Oder wie der Spruch lautet, dass die Entwicklungen in Deutschland denen in den USA nur um zehn Jahre hinterher hinken. Da ist etwas dran.

Es begab sich aber in einer nicht fernen Vergangenheit, dass die übliche Form des Zugangs zu den Elite-Universitäten der USA nicht mehr durch Reichtum und Macht der Eltern bestimmt werden sollte, sondern nur noch durch Intelligenz und Talent. So stellte man Tests auf, die Bewerber für die begehrten Studienplätze bestehen mussten. Der bekannteste davon ist der SAT-Test. Trotzdem wurde immer noch ein eklatanter Teil der Plätze für Kinder reicher Spender oder ehemaliger Absolventen freigehalten. Dieses Vorgehen war nur eine konsequente Entwicklung in der amerikanischen Gesellschaft, die man als Meritokratie bezeichnet. Die Herrschaft der Menschen, die sich durch besondere Verdienste und Leistungen ausgezeichnet hatten. Das war ein deutliches Zeichen der sich nun ausprägenden Leistungsgesellschaft, in der nur noch Leistung und Erfolg zählen sollten, nicht mehr Abstammung oder Herkunft, Religion oder Hautfarbe. Theoretisch. Hier zeigt Sandel die Grundlagen der Leistungsgesellschaft und ihre Auswirkungen. Der Glauben der so genannten Leistungsträger und Eliten, die überzeugt sind, dass ihre Erfolge nur ihnen gehören und ganz allein von ihnen erreicht wurden. Was sie zu der Meinung trägt, auch die Herrschaft in ihrer Gesellschaft inne zu haben. Doch die Auswirkungen sind weitreichender. Es ist auch mit der Überhöhung ihrer Positionen und der Abwertung, ja Demütigung derjenigen verbunden, deren Talente und Begabungen sie eben nicht an die Spitze der Gesellschaft getragen haben. Hier dann die Eliten und Leistungsträger, dort die Verlierer und Gescheiterten. In welcher Enttäuschung und Entwürdigung diese angeblichen Verlierer zurück bleiben und welche Folgen das hat, ist offensichtlich. Sie befeuerten Donald Trump, Boris Johnson oder Rechtspopulisten. Obwohl diese Idole selbst zu den Eliten gehören. Milliardäre, Eton-Absolventen und Professoren. Was die angeblichen Inhaber der großen Verdienste ignorierten, war die Tatsache, dass sie eben nicht ganz allein dort hin gekommen waren. Angefangen bei den Straßen und Schulen, Brücken und Verkehrsmittel, bis hin zu Lehrern und Freunden, Familie und Unterstützern. Ganz zu schweigen von Zufällen und günstigen Gelegenheiten, Vorlieben des jeweiligen Marktes und Anforderungen von Arbeitgebern. Sandel entzaubert die große Geschichte der persönlichen Erfolge und Verdienste.

Das bildet den mittleren Teil in Sandels Geschichte, der Irrtum über die persönlichen subjektiven Leistungen, die Spaltung der Gesellschaft in glorreiche Gewinner und armselige Verlierer. Das Ende des Gemeinwohls zugunsten einer erbarmungslosen Leistungsgesellschaft. Natürlich betrachtet Sandel dabei sein persönliches Umfeld, amerikanische Universitäten, mit besonderer Schärfe. Was dann einen beträchtlichen Umfang des Buches ausmacht. Zum Schluss kommt er auf die weiterreichenden Entwicklungen, die Missachtung der Arbeit, die Entwürdigung der Arbeiter und Handwerker. Doch auch die indirekten Auswirkungen dieser Leistungsgesellschaft, der Meritokratie, kommen zur Sprache. Wie sich erst Wut und dann Hass entwickelten, wie sich frühere Organisationen der Arbeiter zu Gremien der intellektuellen linken Gruppen veränderten, warum Populisten immer mehr Zulauf bekamen. SPD und AfD, obwohl vom Autor gar nicht gemeint, bekommen aus deutscher Sicht klare Umrisse. Warum die ehemalige Arbeiterpartei heute intellektueller Debattierclub wurde und warum sie langsam in den Wahlergebnissen ins Bedeutungslose herab sinkt. Die letzten Kapitel sind der wichtige Kern in Sandels Betrachtungen, gelten nicht nur für die USA, sondern für alle modernen Industriegesellschaften. Erklären nicht nur Donald Trump und Jair Bolsonaro, sondern auch AfD, den Abstieg von SPD und CDU und den zunehmenden Hass in den Gesellschaften. So endet das Buch nicht als weitschweifiger Exkurs in die amerikanische Gesellschaft, sondern als eine nachvollziehbare und logische Kritik der kapitalistischen Leistungsgesellschaft.

Michael J. Sandel (* 5. März 1953 in Minneapolis) ist ein US-amerikanischer Philosoph. Bekannt wurde er vor allem als Mitbegründer der kommunitaristischen Strömung. Sandel studierte an der Brandeis University und promovierte an der University of Oxford bei Charles Taylor. Seit 1980 lehrt er Politische Philosophie an der Harvard University, wo er Anne T. and Robert M. Bass Professor of Government ist. Bekannt ist er besonders aufgrund seines Kurses Justice with Michael Sandel, der mittlerweile auch im Internet zu finden ist. Für 2018 wurde Sandel der Prinzessin-von-Asturien-Preis für Sozialwissenschaften zugesprochen. Er lebt in Brookline bei Boston. […] 2020 sieht Sandel in seiner Schrift Vom Ende des Gemeinwohls, wie die Leistungsgesellschaft in Form der Meritokratie unsere Demokratien zerreißt. Außerdem benennt er darin die Wissenschaftsfeindlichkeit und die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich als die zentralen Probleme der Gegenwart und appelliert zum Schluss dafür „die Würde der Arbeit“ wirtschaftlich, kulturell und politisch wieder zu erneuern. Als erster Harvard-Professor stellte Sandel die Aufzeichnung seiner Seminare gratis online. (Wikipedia)

 

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert