Dirk Neubauer: Das Problem sind wir
Augustusburg liegt nördlich von Chemnitz. Das überaus nette und gemütliche Örtchen mit dem schönen Schloss habe ich im Mai 2023 kennengelernt, auf meinen üblichen Besuchen im südlichsten Bundesland des deutschen Ostens. Später bekam ich von einer Freundin dieses Buch mit auf den Heimweg. Vom (jetzt) ehemaligen Bürgermeister des Städtchens. Dirk Neubauer war ursprünglich Journalist, hat jedoch 2013 den Sprung in die kommunale Politik gewagt. Er ließ sich zum Bürgermeister wählen, löste so die bisherige Bürgermeisterin der CDU ab. Neubauer selbst trat erst 2017 in die SPD ein, in die Partei, in der die meisten Übereinstimmungen zu seinen Überzeugungen lagen. Als Journalist waren die Voraussetzungen gar nicht mal schlecht. Neubauer hatte sich viel vorgenommen. Er wollte die Politik in seiner Stadt öffnen, wollte Austausch, wollte Bürgerinnen und Bürger beteiligen, wollte Kommunalpolitik transparent machen. Er richtete einen Blog ein, veranstaltete regelmäßige Sprechstunden. So wurde er ein erfolgreicher Bürgermeister, mit Pragmatismus und viel Engagement. In seinem Buch «Das Problem sind wir» berichtet er über diese Zeit, über Erfolge und Hürden, Fehlschläge und Erkenntnisse. Doch wann immer die Rede auf Sachsen oder Thüringen kommt, wird es speziell. Dann geht es um Wahlerfolge der AfD, um Landflucht und die Probleme der ländlichen Regionen, um zerlegte Lebenswege und um den beschwerlichen Weg des Ostens von 1990 in die Gegenwart. Ein Buch aus der Praxis für die Praxis. Mit viel mehr Einsichten, als der Untertitel ahnen lässt.
Rathäuser, Gemeinde- und Stadträte sind die Stellen, an denen sich Politik und Bürgerinnen und Bürger am nächsten kommen. Vielleicht relevant sind noch Landtage, aber Berlin und erst recht Brüssel sind Äonen entfernt. Dementsprechend geht es im Kommunalen genau darum, was die Menschen in einem Ort direkt betrifft. Schulen, Straßen und Brücken sind in Schuss zu halten, Infrastruktur ist zu erhalten oder zu modernisieren. Doch das alles ist in Ostwestfalen eine andere Geschichte als im Vorerzgebirge. Während hier im Paderborner Land selbst in Dörfern kaum noch Wohnungen zu bekommen sind, kämpfen die Gemeinden im Osten Deutschlands gegen Abwanderung, Überalterung und den Verlust von Arbeitsplätzen. Eine besondere Rolle spielt dabei natürlich der Übergang von der DDR zu einem Teil der BRD, der an kaum einem Ort ohne erhebliche Schwierigkeiten verlaufen ist. Diese Entwicklungen der letzten dreißig Jahren wirken noch immer fort, nicht nur bei wirtschaftlichem Nachholbedarf, sondern auch immer noch in den Köpfen der Menschen. Während der Westen sich an Gesetze und Regularien schon seit über siebzig Jahren gewöhnt hat, ist noch immer für Menschen im Osten vieles fremd und unverständlich. Am deutlichsten formuliert sich das in Aussagen, man habe zwar Reisefreiheit und Konsum gewollt, aber nicht wieder eine Art Fremdherrschaft. Dirk Neubauer schildert Mentalitäten und Überzeugungen in seiner Gegend, warum sich Leute ehrenamtlich engagieren oder eben nicht. Die Demokratie ist immer noch nicht auf wirklich guten Wegen in den neuen Bundesländern. Viel Wut, aber auch Enttäuschung und das Gefühl der Deklassierung schwingen da mit.
Dirk Neubauer versucht das Beste daraus zu machen. Die Stolpersteine sind vielfältig, angefangen beim Machtanspruch der Landesregierung, Fehlen jedweden Pragmatismus und Verstecken hinter Gesetzen und Vorschriften. Neubauer möchte Budgets und Fördermittel wieder da verorten, wie sie hingehören, wo ihre Verwendung entschieden werden. So ist sein Kampf, seinen Ort lebenswert, modern und attraktiv zu machen, oft ein Kampf gegen Windmühlen, in Dresden oder in Chemnitz. Neubauer schildert in diesem Buch diese Mühsamkeit, mit den aus dem Westen importierten Verfahren und Vorschriften zurecht zu kommen. Nun ist das Ganze im Westen wahrscheinlich auch keine andere Geschichte, doch bei den Menschen im Osten kommt es oft als das an, was in vielen anderen Geschichten anklingt: Die Übernahme des Ostens durch den Westen.
Dass das Buch dann so lesenswert und interessant wird, liegt daran, dass Neubauer eben einen Hintergrund als Journalist hat. Es versteht gesellschaftliche Wirkungen und Abläufe wesentlich detaillierter, kann in Sprache fassen, wo Leute ohne diese Schreiberfahrungen sich einfach in Faktenlagen verlaufen. Zuerst war ich etwas zögerlich, ob ich das Buch angehe. Im Nachhinein hat es mir oft geholfen, „den Osten“ noch ein wenig besser zu verstehen. Weil Neubauers Geschichte keine trockene Analyse oder Betrachtung ist, sondern aus dem galoppierenden Leben gegriffen. Zum Schluss nutzt er diese Erkenntnisse aus dem Alltag eines Kommunalpolitikers, um zu beschreiben, was sich ändern muss, wo Neuanfänge gewagt werden müssen. Aber er hält auch ein Standpauke an all jene, die sich ständig zurücklehnen, ständig fordern und beleidigt abwenden, wenn es ihnen so nicht gefällt. Anstatt sich zu engagieren. Neubauer macht klar, wo die eigentlichen Probleme liegen. Das Problem sind wir.
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