Samira El Ouassil/Friedemann Karig: Erzählende Affen
Homo Sapiens ist das einzige Lebewesen auf der Erde, das der Sprache mächtig ist. Sein großer evolutionärer Vorteil, weil so Erfahrungen, Wissen und Informationen weitergegeben werden, an andere Menschen und gerade an seine Nachfahren. Doch es ist nicht die Sprache allein, was den Menschen ausmacht. Mittels Sprache kann der Mensch Geschichten erzählen, seien es wahre Begebenheiten, Mythen, Märchen, Phantasien und Lügen. Denn nach Geschichten, so El Ouassil und Karig, sind die Menschen geradezu süchtig. Aus gutem Grund, denn nur Geschichten helfen zu verstehen, Zusammenhänge zu erfassen und Begründungen zu finden, für möglichst alles, was Menschen umgibt. Noch mehr, brauchen die Menschen sogar kausale Zusammenhänge, suchen sie verzweifelt, wenn sie nicht offensichtlich sind. Götter, die Wetter, Naturkatastrophen und Schicksale bestimmen, Freunde und Feinde, die über Wohl und Wehe entscheiden. Doch gerade da liegt auch die Gefahr von Geschichten. Von der Begründung der Religionen über angebliche Erbfeindschaften bis hin zu Lügengebäuden wie die der Nationalsozialisten oder eines Donald Trump. Schon wieder so ein Brecher von Buch. Und wieder eines, das bis zum Ende spannend bleibt. Sogar erstaunliche Einsichten liefert. Auch zu sehen auf der Buchmesse Frankfurt.
Doch einfach nur Geschichten sind es nicht. Es ist komplizierter. Genauer muss man nämlich Narrative, Erzählungen und die Geschichten auseinander halten. Erst dann wird das Wirken von Geschichten verständlich. Der Urtypus der Geschichten, die sich Menschen erzählen, ist der der Heldenreise. Keine andere Erzählform zieht sich so von der Antike bis in die Gegenwart. Doch hat sich die Heldenreise verändert, die Protagonistinnen und Antagonisten sind heute anders gestrickt. Trotzdem findet sich die Heldenreise noch heute, mit all ihren lange analysierten typischen Merkmalen und Rollen. Darum geht es im ersten Teil des Buches. Wer meint, dass sich die Heldenreise schon lange erübrigt hat, wird eines Besseren belehrt. Erstaunlich, vorgeführt zu bekommen, dass auch amerikanische Präsidenten Heldenreisen antreten, nicht nur der mit den orangenen Haaren, sondern auch der erste Schwarze im Oval Office. Leider haben sich schon in den letzten einhundert Jahren neue Geschichten heraus gebildet, um die es im nächsten Teil geht. Wenig gesunde Geschichten.
Wären da die Märchen für Erwachsene. Auch Geschichten, die jedoch von der Realität nicht sonderlich berührt sind. Wie der angebliche Homo Oeconomicus, der Neoliberalismus, die Meritokratie, über einen Viren verbreitenden Bill Gates, oder sogar das Märchen von den blutrünstigen Juden und ihr Streben nach der Weltherrschaft. Obwohl völlig unplausibel, unbelegbar und nicht im Geringsten wahrscheinlich, werden sie seit Generationen lustig weiter erzählt. Warum, stellen El Ouassil und Karig sehr bildhaft und nachvollziehbar dar. Was für das ganze Buch gilt. Doch nicht immer sind Geschichten erfunden und fiktional. Tiefengeschichten begründen ganze Nationen. Die Franzosen haben ihre Tiefengeschichte in ihrer Revolution verankert, und der Aufklärung. Die Briten schauen auf Jahrhunderte ihrer Nation zurück, mit einer langen Historie ihrer Königshäuser und ihrem Empire. Nur die Deutschen haben es nicht hinbekommen, solch eine Tiefengeschichte erzählen zu können. Im Gegenteil, ab 1989 wurde einem Teil des heutigen Landes sogar erzählt, sie hätten gar keine eigene Geschichte und sollten gefälligst mit den Wessis gleichziehen. Geschichten sind also mehr als Fakten oder Fiktion, Geschichten sind Existenzberechtigungen, belegen Ansprüche und Überzeugungen, attestieren einen Platz in der Welt.
Die letzten Jahrzehnte haben eine ganz neue Fülle von Geschichten ermöglicht. Durch die sozialen Medien. Heute nun kann Jeder und Jede seine eigene Geschichte erfinden, Selbsterzählungen initiieren und seine eigenen Narrative in die Welt bringen. Und doch taugen nicht alle Fragen und Lebenslagen für Geschichten. Der Klimawandel zum Beispiel, so viele Versuche es gegeben hat, darüber eine Geschichte zu erzählen. Das Narrativ ist klar, aber der Weg bis in eine Geschichte des Klimawandels ist zu sperrig, zu langatmig, zu unübersichtlich. Auch fehlt der eindeutige, konkrete und zwingende Auslöser, der den Helden auf seine Reise und zum Handeln zwingt. Trotzdem bekommt diese Fragestellung viel Raum zum Ende des Buches. Wie das Buch am Ende dann sich stark auf politische und soziale Erzählungen und Geschichten konzentriert. Dabei leider etwas zerfasert und die Stringenz vom Anfang verliert. Trotzdem widmet sich das Buch den Erzählungen und Geschichten in einer beinahe unüberschaubaren Breite, geht sehr in die Tiefe, deckt philosophische, politische, soziale und mediale Sichtweisen ab, analysiert und fasst sie in anschaulichen Bildern zusammen. Gerade weil die Geschichte mit den Geschichten wieder in Geschichten erzählt wird, wird bis auf das Ende ein schöner roter Faden gelegt. Dem ich dann gerne bis ans Ende gefolgt bin. Danke an meine Tochter für dieses wundervolle Weihnachtsgeschenk.
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