Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück
Mittlerweile gibt es eine erkleckliche Anzahl von Büchern über den Alltag in der DDR vor und kurz nach 1989. Mal mehr, mal weniger persönlich. Mit meinem ausgeprägten Interesse für die östlichen Bundesländer kam ich deshalb um dieses Buch nicht herum. Zentrum der Geschichte ist die 1986 in Wismar geborene Protagonistin Stine, der Autorin nicht unähnlich, aber nicht mit ihr identisch. Es ist aber keine Geschichte nur über den „Ost-West-Graben“, es ist genau besehen nicht mal eine nur typisch ostdeutsche Angelegenheit. Was Stine erlebt, ist die Kontinuität von Gewalt in ihrer Familie, in der Nazizeit, in der DDR oder während der Baseballschlägerjahre. Diese Gewalt entsteht nicht aus sich selbst, sondern aus Verstrickungen, in einen repressiven Staat, in Ideologien und auch in der eigenen Familie. Diese Verstrickungen ziehen sich über Generationen, mir fiel dabei der Bibelspruch ein, dass die Sünden der Väter an ihren Kindern bis ins dritte oder vierte Glied heimgesucht werden. Angefangen vom Großvater, der mit dem Nationalsozialismus anbandelte, bis zu den Eltern, für die die DDR das bessere, ja das einzig richtige Deutschland war. Da werden Mythen gesponnen, Erzählungen gepflegt, Anekdoten wiederholt, bis sich ihr Wahrheitsgehalt erübrigt. Da wird ge- und verschwiegen, werden Wahrheiten zusammen geschustert. Bis Stine beginnt nachzuforschen, besonders im Fall ihres Großvaters Paul. Erst allmählich wird Stine klar, warum ihr Lebensweg so verlief, wie er verlief. Warum sie nicht darum herum kam, den Kontakt zu ihrer Mutter abzubrechen.
Anne Rabes Buch ist ein Roman, aber er ist nicht nur das. Manchmal hat es etwas Meditatives. Stine schreibt, ihre Kindheit bliebe ein dunkler Traum, aus dem sie nicht aufwachen könne. „Geburtstagskerzen, Familienfeste, Ferienlager. So von außen sieht es schön aus, aber wenn ich einmal hineintrete, entfaltet sich vor mir ein düsteres Labyrinth. Es hat keinen Ausgang.“ Aufgewachsen mit einem schwachen Vater und einer prügelnden, gefühlskalten Mutter, die wahrscheinlich ebenso groß werden musste. Mit den Überresten der Nazi-Kultur, gepaart mit der Lebenswelt der DDR-Diktatur. Es ist eine Kindheit, in der es wenig Erbarmen gibt. Nicht einmal mit dem Ende der DDR, als Stine drei Jahre alt ist, entschwindet diese Diktatur aus der Familie. Erst als sie allmählich älter wird, beginnt sie zu verstehen, was um sie und ihren Bruder Tim herum wirklich passiert. Sie beginnt zu forschen, zu recherchieren, nach der Geschichte ihrer Familie zu suchen. Auch wenn nicht alle Mitglieder der Familie gleich wichtig sind. So stellenweise humorvoll Stine ihre Geschichte erzählt, steht dahinter doch immer die Gewalt in der Familie, die auch in der DDR ständig präsent war. Nach 1990 sogar auf den Straßen immer deutlicher wahrnehmbar. Was Stines Eltern in der DDR sahen, entpuppt sich immer mehr als Phantasiegebilde. So hätte 1989 eine Möglichkeit von Glück sein können, wenn nicht die eigene Familiengeschichte dem immer entgegen stand.
So wird das Buch kein linearer Roman, keine Geschichte, die hier beginnt und dort endet. Sie vermischt Erinnerungen, Traumsequenzen und literarische Zitate zu einem kaleidoskopartigen Text. Die Geschehnisse des Krieges finden trotzdem ihren Anteil, weil sie Teil der Geschichte sind. Die Geschichte lässt Stines Erleben, aber auch ihren Schmerz und die Verletzungen nicht nur sichtbar, sondern auch fühlbar werden. Stines Aufwachsen mit ihrem Albtraum von Mutter, dem Beschweigen und Schönreden, ist erst einmal kein ostdeutsches Phänomen an sich, wenn sich dieses Leben nicht in den Kinderhorten und Jugendwerkhöfen der DDR fortsetzt hätte. Die DDR als liebloses, gefühlloses Land, in das die Eltern so gut passten. In das sich die Eltern gerne einfügten. Überhaupt ist die Geschichte ihrer Familie ein sich einfügen, ein Befolgen scheinbarer Notwendigkeiten. Eigenes, wie Widerborstigkeit, Individualität, Reflektieren hat da keinen Platz. Wie nicht in der Familie, so auch nicht in der DDR.
«Die Möglichkeit von Glück» ist kein einfaches Buch, keines, das man so mal herunter liest. Besonders, weil es literarisch ist, aber nie gekünstelt. Nicht mehr ganz so junge Leute, besonders die Boomer, mit Eltern, die selbst noch von der Vergangenheit geprägt wurden, werden vieles wiedererkennen, wenn nicht sogar sogar manchmal mit dem Kopf nicken können. Auch mir ist eine Menge bekannt vorgekommen, mit Eltern, deren Elternsein noch von braunen Machwerken a’la „Die Mutter und ihr erstes Kind“ beeinflusst waren. Damit ist das Buch beides, Rückschau auf die DDR, aber auch persönliches Erleben von Stine in einer Familie, die es so wahrscheinlich zu Tausenden gegeben hat. Oder die es leider immer noch gibt.
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