Hendrik Bolz: Nullerjahre

Es ist kein Roman, da nicht tatsächlich fiktiv. Es ist auch kein Sachbuch, denn es geht um die ganz persönlichen Erfahrungen des Autors. Eine Reportage auch nicht, denn Hendrik Bolz sagt im Vorwort zu diesem Buch: „Dieses Buch berichtet aus einer Welt, von der man schwer erzählen kann, ohne den Rassismus, den Antisemitismus, die Misogynie, die Homophobie und die Gewalt sprachlich zu reproduzieren, die in ihr zentrale Ordnungsprinzipien waren. Diese Ambivalenz sollte niemand aushalten müssen, der sich nicht bewusst dafür entschieden hat.“ Seine Erfahrungen in der Kindheit und frühen Jugend schildert er also, wie sie waren, hat aber Orte und Personen geändert. Verglichen mit meinem eigenen Aufwachsen, waren Bolz‘ Welt und meine in etwa so vergleichbar wie Essen-Borbeck und die Bronx. Leicht übertrieben, kommt dem Grundproblem aber nahe. Es geht um die Zeit nach der Wende, als den DDR-Bürgern blühende Landschaften versprochen wurden. Was tatsächlich kam, waren sterbende Industrien, Arbeitslosigkeit und Trübsal in den Schluchten zwischen den Plattenbauten. Das sind wichtige Faktoren, aber es geht mehr darum, dass schon in der DDR Rechtsradikalismus und Neonazis viel mehr den Ton angaben, als die dortige Parteiführung es zugeben wollte, lieber vom Rowdytum faselte als über braune Banden sprach. Herausgekommen ist so ein Buch, das in seiner Eindringlichkeit einem gelegentlich die Kehle zuschnürt. Wenn man eben nicht gewaltaffin ist.

Hendrik BolzNullerjahre

Hendrik Bolz wächst in Stralsund auf, in einem Viertel mit Namen Knieper-West. Eine Plattenbausiedlung, in den Sechzigern gebaut für über 20.000 Menschen. Weit weg vom Rügendamm und den touristischen Zentren. Nach der Wende vergreist und ergraut die Gegend, wer es sich leisten kann oder will, zieht weg. In dieser Trostlosigkeit wächst er auf, mit seinen Freunden Tino, Pavel, Basti und weiteren Kindern. Ein tristes Leben zwischen vielen an Wände geschmierten Hakenkreuzen und immer drohender Gewalt. Tonangebend sind breite Burschen in Bomberjacken und in Springerstiefeln. Gewalt ist ständig latent, sie beginnt schon im Kindergarten mit liebloser Betreuung und harten erzieherischen Maßnahmen. Später entdecken sie Drogen, die den erdrückenden Alltag ein wenig einfärben, erst Gras, später Kokain und Alkohol. Schnell lernen sie, dass die Alternativen Fressen oder Gefressenwerden heißen. Sie lernen zu prügeln, jeder will Täter sein, nicht Opfer. Prügeleien sind an der Tagesordnung, alle wollen härter werden, und stumpfer, um nicht vor dem Zuschlagen zu zögern. Je älter sie werden, desto tiefer geraten sie in den Drogensumpf, die Attacken auf Schwächere wie Ausländer oder Obdachlose sind für sie Volkssport. Gegen diese Truppen sind Alex und seine Droogs aus Clockwork Orange Musterknaben. Im Grunde ist das schon der überwiegende Inhalt des Buches. Prügeln, Saufen, Koksen, rechts sein. Wäre da nicht ein Rest von Aufbegehren in Hendrik. Doch er kann der Tristesse und Aussichtslosigkeit nicht entfliehen. Erst ganz am Ende, als Nadja seine Freundin wird und sie von Mecklenburg-Vorpommern nach Berlin ziehen. Wo plötzlich die, die sie bisher so verachtet haben, Hipster, Intellektuelle und Nerds, zum Normalfall werden, statt wie bisher in Stralsund Exoten zu sein. Die nur dazu nützlich sind, beinahe tot geschlagen zu werden. So sehr sich Hendriks Welt in Berlin auch verändert, er wird diesen einen Nordosten nicht los. Bis zum Ende des Buches.

Mir stellte sich schnell die Frage, ob das, was Hendrik Bolz beschreibt, „der Osten“ ist. Nein, es ist ein Osten, die anderen mir vertrauten Versionen sind die bunte und linke Dresdener Neustadt, das verträumte Tharandt, die Müritzer Seen oder die touristische Ostseeküste. Bolz will etwas Anderes zeigen, nämlich dass Neonazis und rechte Schläger keine Entwicklung der Nachwendezeit sind, sondern in der DDR immer eine Bedeutung hatten. Sie waren aus seiner Sicht fast etwas wie Normalität, sind nicht zuletzt durch die Rigidität und Abgeschlossenheit der DDR sogar gefördert worden. Ganz im Gegensatz zu dem damaligen Ministerpräsidenten Biedenkopf ist Bolz‘ Botschaft: Rechtsradikalismus ist im Osten Gewohnheit. Er war es schon lange vor der Wende, nur ist er nach der Wende immer sichtbarer geworden, weil die erdrückende Staatsmacht nun fehlte.

Dieses Buch fand ich zu großen Teilen sehr bedrückend, auch weil diese maßlose rechte Gewalt und Brutalität, um die es hauptsächlich geht, in meiner Lebenswelt in der Jugend sehr selten war. Bedrückend auch die Trostlosigkeit des kleinen und großen Hendrik, der diese Welt nicht mehr aus dem Kopf und aus der Seele bekommt. Auch nach über einem Dutzend Jahren in Berlin nicht. Das sich für ihn so wie so als nicht das herausstellte, was er suchte und erfahren wollte. Doch hinter den Schilderungen von zerprügelten Gesichtern und Drogenexzessen bis kurz vor dem Ableben wird auch ein anderer Hendrik spürbar. Der nämlich schon weiß, dass das alles nicht das Leben ist, das sich zu leben lohnt. Trotz der breit dargestellten Gewalt  ist Nullerjahre ein wichtiges Buch, sicherlich aus einer ganz schmalen Perspektive, das zumindest in Teilen erklärt, wo die Wurzeln des politischen und gesellschaftlichen Daseins in den neuen Bundesländern liegen. Es ist eben kein Roman mit einem Happyend. Es ist eine sehr persönliche Abrechnung der Leute, die in diesem neuen großen Deutschland keine blühenden Landschaften fanden, sondern nur Abstieg.

Hendrik Bolz wurde 1988 in Leipzig geboren. Ende der 2000er-Jahre zog er von Stralsund nach Berlin, setzte ein Studium in den Sand, landete dann in der Redaktion der Internetseite rap.de. So beschloss er, selbst Rapper zu werden. Heute ist er alias Testo in der Band Zugezogen Maskulin und macht den Podcast Zum Dorfkrug

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