Martin Gross: Das jetzte Jahr
Als Martin Gross 1992 sein Buch veröffentlichte, fand es nicht viel Beachtung. Erst als ein Verleger 2019 bei einer Recherche auf das Buch stieß und Gross für eine Neuauflage kontaktierte, bekam das Werk nun viel Aufmerksamkeit, zum Beispiel im Perlentaucher oder auf der Frankfurter Buchmesse. Wenn auch mal wieder in der Sparte Sachbücher behandelt, ist es das genau nicht. Es fällt etwas schwer, das Buch in eine Schublade zu packen. Obwohl das Wort „Reportage“ ständig in ihm vorkommt, ist es keine Reportage. Ein geschichtliches Werk ist es auch nicht, vielleicht kommt „Erlebnisbericht“ näher. Gross lebte seit Januar 1990 überwiegend in Dresden, schildert seine Erlebnisse und Eindrücke während des Umbruchs in der zu Ende gehenden DDR. Er bekommt nicht nur Kontakt, sondern auch Bezug zu ehemals fernen Verwandten, er besucht Rathäuser, sterbende Fabriken und Geschäfte, die dem Untergang geweiht sind. Doch nicht die geschichtliche, wirtschaftliche oder politische Lage steht im Vordergrund. Zuerst geht es um die Menschen, die diesen gewaltigen Umbruch stemmen müssen. Die zeitweise nicht wissen, wie es in der nächsten Woche weiter geht, die von windigen Wessis über den Tisch gezogen werden. Währungsunion, Treuhand, werdendes Bundesland der BRD. Und man kann schon ahnen, dass aus seinen Aufzeichnungen kein Sachbuch im eigentlichen Sinne wurde, sondern Literatur. In jeder Hinsicht.
Was er genau vorhatte, warum er nach Dresden ging, war Martin Gross selbst erst nicht klar. Er wohnt in einem Gästehaus wohl einer Hochschule, erlebt die Atmosphäre in der noch ursprünglichen DDR. Wo man in einem Hotel ein Gespräch in den Westen noch anmelden musste. Weil nur wenige Begünstigte überhaupt ein Telefon hatten. Von einem Telefonanschluss ganz zu schweigen. Er durchwandert die grauen Straßen mit grauen Häusern, das alte Dresden, das viel Verfall, keinen Glanz zu bieten hat. Die trüben Tapeten und Böden in den Häusern, das funzelige Licht in Wohnungen und selbst auf den Hauptstraßen. In seinen Notizen aus dem Noch-DDR-Alltag verfolgt er, wie die Menschen den Wechsel vom alten in das neue System vollziehen. Er porträtiert so unterschiedliche Personen wie den Bewacher eines ehemaligen Stasi-Gefängnisses in der Bautzener Straße, den Filialleiter eines in einem Zelt auf einem Acker untergebrachten Supermarktes, die Personenschützer eines Ministers und die Reinigungskräfte eines Regierungsgebäudes. Einen zentralen Punkt bildet eine Zeitung, die Redakteure und die Chefin. Bis die Zeitung aus Hamburg übernommen wird.
Mit dem Einfall der Berater und Manager aus dem Westen bilden sich zwei Welten heraus. Hier die hyperschnellen, selbstsicheren und oft arroganten Westler, dort die verunsicherten, an ein ganz anderes Gesellschaftssystem gewöhnten Ostler. In ganz feinen Details bewegen sich seine Beobachtungen, wie der Westen mal freundlich, überwiegend aber ohne jede Empathie und nassforsch das Ruder im Osten übernimmt. Es geht um Geld, um Grundstücke, um Gewinne und Umsätze. Selten um Menschen. Doch gerade denen, Onkel Paul und Onkel Theo, Carola und Beate, widmet Gross seine Aufmerksamkeit.
«Das letzte Jahr» gehört zu der Art von Büchern, die ich schwerlich aus der Hand legen kann. Es hat mich magisch immer wieder hinein gezogen. Einmal wegen der Details in Personen und Orten, Geschehnissen und Gegebenheiten. Aber auch, weil Gross nicht in der Sprache des Sachbuches schreibt, sondern in der Sprache der Literatur. Mal blumig und farbig, dann wieder die graue DDR abbildend, die ich selbst noch ab 1992 so erlebt habe. Vielleicht hat mich auch deshalb diese Geschichte so fasziniert, das Bild vom Hochhaus am Albertplatz auf der hinteren Klappe habe ich noch so vor Augen. Heute ist das Haus nicht mehr wieder zu erkennen. Durch diese Sprache gelingt es Martin Gross, die Atmosphäre sehr genau einzufangen, die Wandlungen in seiner Umgebung mit zu vollziehen, weiter zu geben, wie es den Menschen damals nicht nur in Dresden ging. Wenn ich das nächste Mal am Albertplatz aus der Straßenbahn steige, wird sich mein Bild des Ortes verändert haben. So etwas schaffen nur besondere Geschichten. Wie die von Martin Gross.
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[…] Beste für den Osten sei. Diese Sicht ist keine Ausnahme, viele Bücher und Studien, auch eben «Das letzte Jahr» von Martin Gross zeigt, wie der Westen den Osten übernahm. Als Erstes kamen der Einzelhandel und […]
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