Barbara Halstenberg: Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt

Angeregt durch ein ähnliches Projekt über den ersten Weltkrieg von Wolf-Rüdiger Osburg begann Barbara Halstenberg 2015 mit Recherchen zu Kriegskindern aus dem zweiten. Zuerst mit wenig Erfolg. Als sie Zettel in Apotheken aushing, um weitere Zeitzeugen zu finden, stand ihr Telefon oft nicht mehr still. Am Ende hatte sie rund 100 Menschen interviewt, die überwiegend in den Zwanzigern und Dreißigern des 20. Jahrhunderts geboren waren. Die also als kleine oder junge Kinder den letzten Weltkrieg miterlebt hatten. Diese Interviews bilden die Grundlage ihres Buches, ergänzt um Hintergrundinfos zu wichtigen Themen aus historischer Sicht. Das, was Halstenberg von den letzten Zeugen dieser Zeit erfuhr, sortierte sie nach thematischen Merkmalen, es werden also keine kompletten Interviews wiedergegeben, sondern Auszüge, zum Teil aber auch über viele Seiten. Damit ergibt sich ein vielfältiges Bild, wie Kinder in diesen harten Zeiten aufwuchsen. Da geht es um ausgebombte Städte und Spielen in den Ruinen, die alltägliche Suche nach Essen, um Nazi-Blockwarte und viel um die Hitlerjugend, aber auch ganz andere Geschichte kommen zur Sprache. Der Zusammenhalt der Menschen, die verlorenen Väter, die Alltäglichkeit der nationalsozialistischen Ideologie. Selbst jüdische Menschen, die es geschafft haben, im Deutschland dieser Zeit zu überleben, kommen zu Wort. So entsteht ein Bild des Lebens in dieser Epoche aus der Sicht der Kinder. Ein Zeitzeugnis, das nicht immer nur Schrecken und Grausamkeit dokumentiert, sondern durchaus Humor und Ironie zulässt.

Barbara HalstenbergAlles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt

Auf fast 500 Seiten entsteht das Bild einer Zeit, die für uns heute im 21. Jahrhundert kaum mehr nachvollziehbar ist. In gewisser Weise ist das Buch ein Antikriegsbuch. Aber das war nicht Halstenbergs Ansinnen, das war eher der Gedanke der Interviewten. Um eine Struktur zu bilden, wurden die Aussagen in bestimmte Zusammenhänge gebracht. Themen wie der Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung, Hitlerjugend und nationalsozialistischer Alltag, Kindersoldaten, Nazi-Eltern bis hin zu Kriegsende und Nachkriegszeit. Gerade zum Ende des Buches spielt die Besatzung eine zentrale Rolle. Mit dieser breiten Palette an Erinnerungen der heute sehr alten Menschen werden viele Vorstellungen der Nachkriegsgenerationen in Frage gestellt. So waren die einrückenden Russen nicht immer nur brutal und verbrecherisch, und auch die Amerikaner waren nicht nur Engel mit Zigaretten und Schokolade. Gerade die Vielfältigkeit der Aussagen lassen diese Zeit so erscheinen, wie menschliche Geschichte immer ist. Mit vielen Aspekten, unterschiedlichen Erlebnissen und ganz persönlichen Erfahrungen. Das wieder hilft zu verstehen, wie die Ideologisierung des Nazi-Regimes wirkte. Gerade Kinder kannten keine alternative Wirklichkeit, keine Demokratie und schon gar keinen Überfluss.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der, dass die nun alten Menschen ihre Kindheit noch einmal ins Gedächtnis rufen und diese an der heutigen Zeit spiegeln. Der große Wert des Buches liegt in der Dokumentation der Zeitgeschichte. So muss man es auch lesen, im Bewusstsein, dass es um eine Welt geht, die nicht mehr existiert. Deren Funktionieren, deren Regeln und gewohnter Alltag heute unverständlich bleiben. Natürlich kommt Halstenberg auch um politische Aspekte nicht herum. Wussten tatsächlich viele Leute nichts von der Judenverfolgung und von den Konzentrationslagern? Nach den Interviews zu urteilen: mal so und mal so. Wieder muss man berücksichtigen, wo die Menschen lebten, ohne elektronische Medien, teils ohne Zeitungen. Das Leben auf einem Hof in Pommern oder im bayrischen Wald war ein grundlegend anderes als das in Berlin oder Hamburg. Es kommen auch Menschen vor, die vom Krieg praktisch nichts mitbekommen haben, die nicht gehungert haben, die sogar wohlbehütet aufwuchsen. Wenn wir heute darüber diskutieren, die Gesellschaft würde sich immer mehr ausdifferenzieren, zeigt das Buch eine andere Version. Nämlich die, dass in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Vielfältigkeit noch viel größer war. Das Buch wäre eine glänzende Gelegenheit, noch viele weitere Themen aufzuzeigen, die aus der Vergangenheit in unsere jetzige Gegenwart führen. Das Buch ist mehr als eine historische Dokumentation. So gesehen eine Aufforderung, sich mit diesem Abschnitt unserer Geschichte zu beschäftigen. Bevor es keine Zeitzeugen mehr gibt, die noch erzählen können.

Barbara Halstenberg (* 1981) studierte Jura mit Schwerpunkt Rechtsgeschichte und Journalismus. Ihre Schwerpunktarbeit handelte vom Eichmann-Prozess in Jerusalem. Schon während des Studiums entschied sie sich dann jedoch für eine Laufbahn als Journalistin. Sie absolvierte die Freie Journalistenschule und veröffentlichte Beiträge zu den Themen Kultur, Geschichte und Recht bei «SPIEGEL Online», «Berliner Zeitung», «tip magazin» und in der «Berliner Literaturkritik». Heute arbeitet sie als Chefredakteurin eines Hochschulmagazins in Berlin.

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