Lilian Thuram: Das weiße Denken

Lilian Thuram ist weder Soziologe noch Politikwissenschaftler, kein Historiker und kein Philosoph. Er ist ehemaliger Profifußballer, hat in Italien und vor allen Dingen in Frankreich gespielt. Und Thuram ist schwarz, auf Guadeloupe geboren, bezeichnet jedoch Frankreich als seine Heimat. Bekannt ist er dort für sein Engagement gegen Rassismus und der resultierenden Ausgrenzung. In «Das weiße Denken» geht er ein nicht einfaches Thema an, dem man sich als Weißer mit einiger Mühe in der Sicht des Autors nähern muss. Es geht um internalisiertes Denken, um Denkschemata, die fast alle Menschen von klein auf lernen, und ihre Entstehung vergessen haben. Gerade die Majorität der westlichen Gesellschaft kennt mehr oder minder die Stereotypen. Dass Weiße die „besseren“ Menschen sind, intelligenter, gebildeter, friedlicher, aufgeklärter. Schwarze dagegen werden nicht selten als minderbemittelt, gewalttätig und bildungsfern gesehen. Nicht immer und überall in gleichem Ausmaß, aber mit einer vergleichbaren Tendenz. Das ist jedoch nicht das einzige Denkschema. Das andere lautet: Männer sind stärker, intelligenter, einfach die Herren der Welt. Frauen weich, emotional, nicht durchsetzungsfähig. Es geht Thuram aber nicht darum, dieses stereotypische Denken anzuprangern oder irgendwelche Schuld zu verteilen. Er fragt viel mehr danach, woher diese Zuschreibungen für weiße und nicht-weiße Menschen stammen, denn statt Schwarze und Frauen kann man auch Juden und Jüdinnen oder asiatische Menschen nennen. Immer wieder geht es um Zuschreibungen, speziell hier jedoch, dass weiße Menschen die Welt und den Rest der Menschheit nur aus ihrer weißen Sicht wahrnehmen, und sich oft ihrer Verzerrungen der Wirklichkeit nicht bewusst sind.

Ein eindrückliches Beispiel dieser Einteilung der Menschen in wertvoll und unnütz ist und war die Sklaverei. Zwar gab es Sklaven schon im alten Rom und in Griechenland, doch dort waren Sklaven in der Regel weiß. Die Geschichte der Sklaverei, an die wir heute zuerst denken, nämlich die der schwarzen Sklaven, begann ursprünglich mit der Ankunft Columbus‘ auf dem amerikanischen Kontinent. Der Hauptgrund, warum Columbus dort landete, war wirtschaftlich bestimmt. Es ging um Handel, Gewinne und Reichtum. Nicht um Fortschritt und Wohlstand zu bringen, sondern um Ausbeuterei. Die indigene Bevölkerung wurde überwiegend umgebracht oder unterjocht. Nicht viel anders war die Situation, als die europäischen Staaten, allen voran Großbritannien, Spanien, die Niederlande und Frankreich, unter sich die Karibik und Afrika aufteilten. Die einheimischen Schwarzen wurden als Untermenschen gesehen, dumm, hypersexuell und gewalttätig. Doch was die zivilisierten weißen Herren insgeheim plagte, war Angst. Denn die Schwarzen waren ihnen körperlich und kämpferisch weit überlegen. Dort entstand diese Trennung in wertvolle Weiße und minderwertige Schwarze. Seitdem atmen diesen Geist nicht nur weiße Kinder ein, sondern auch schwarze Kinder. Setzt man Kindern Puppen vor, die sich nur in der Hautfarbe unterscheiden, werden sowohl von weißen Kindern als auch von schwarzen den hellhäutigen Puppen eher die positiven Eigenschaften zugeschrieben. Damit nicht genug, sind auch für schwarze Menschen Gott und Jesus Weiße. Neben der noch heute starken Disqualifizierung durch Weiße leiden Schwarze unter einem Gefühl der Zweitklassigkeit und Minderwertigkeit. Ihre Behandlung nicht nur in den USA spricht da Bände, warum das so ist. Das weiße Denken durchdringt die Welt. Diesen allgegenwärtigen Rassismus haben nur wenige Menschen wirklich durchschaut und sich entzogen. Wie sich dieser Rassismus zeigt, wie er immer wieder begründet wird und wie er am Ende überwunden werden kann, das ist in Kurzform der wesentliche Inhalt des Buches.

Was dieses Thema so schwierig macht, zeigt Thuram direkt am Anfang beispielhaft an einem Bild der Erde. Es gibt viele Darstellungen der Erde, wir sind die sogenannte Mercator-Projektion gewöhnt. Die Peters-Projektion verwirrt dagegen zuerst, sie zeigt die Erde auf eine Weise, die unserem Denken widerspricht. Aus Gewohnheit. Dreht man sie noch um 180 Grad, können wir nur schwerlich folgen, obwohl wir wissen, dass es im Weltraum kein Oben und Unten gibt. So sei das auch mit dem weißen Denken, so Thuram. Wir seien gewohnt, so zu sehen und zu denken, kämen nur schwerlich auf die Idee, dass die Realität auch anders sein könnte. Wie auf die Erkenntnis, dass es keine wertvollen und weniger wertvollen Menschen gibt. Auf diese kognitive Verzerrung will Thuram hinweisen, gezeigt an vielen Beispielen, wie fragil das Bild gerade vieler Weißen ist, wie leicht es als phantasiert und irreal demaskiert werden kann. Es geht aber nicht um Begriffe wie Schuld oder Versagen, um bösen Willen. Sondern wie sich über Jahrhunderte ein Bild festgesetzt hat, das von Generation zu Generation weiter gegeben wird. Real ist aber auch, dass es Weiße sind, die den Löwenanteil an Treibhausgasen produzieren, die seit Jahrhunderten bis heute die armen Länder Afrikas ausplündern, Seen und Flüsse verseuchen, bei einem Anteil an der Weltbevölkerung von gerade mal 13% aber 52% allen Reichtums horten. Es geht Thuram darum, das große Ungleichgewicht zu demonstrieren. Nicht um zu verurteilen oder an das Gewissen zu appellieren. Ich habe ihn so verstanden, dass es ihm um eine Zukunft mit einem Wir geht. Das macht er einem in seinem Buch nicht immer einfach, aber seine Gedanken sind es sicher wert, dass man ein gerütteltes Maß an Zeit investiert.

Ruddy Lilian Thuram-Ulien (* 1. Januar 1972 in Pointe-à-Pitre, Guadeloupe) ist ein französischer Autor, Stifter und ehemaliger Fußballspieler. Bis Dezember 2022 war er Rekordnationalspieler der französischen Nationalmannschaft, mit der er die Fußballweltmeisterschaft 1998 und die Fußballeuropameisterschaft 2000 gewann. Seit dem Ende seiner Fußballkarriere widmet er sich der antirassistischen Bildungsarbeit. […] Thuram ist für sein Engagement gegen Rassismus bekannt. So nahm er 2001 den Charity Award für das europaweite Netzwerk FARE (Football Against Racism in Europe) entgegen. 2001 hat Thuram gemeinsam mit den französischen Fußballern Robert Pires, Sylvain Wiltord, Frank Lebœuf, Didier Deschamps, Schiedsrichter Joël Quiniou sowie Trainer Raymond Domenech unentgeltlich und ohne Rechte zu verlangen, eine 20-minütige Videokassette gegen Rassismus aufgenommen, die sich speziell an Jugendliche richtet und bislang schon von über 100.000 Jugendlichen gesehen wurde. Von der Regierung wurde Lilian Thuram in den Integrationsrat berufen; in dieser Funktion wandte er sich bei den Unruhen in den Pariser Vororten 2005 gegen den damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy, der gewisse Jugendliche aus den Vororten als „Gesindel“ und „Taugenichtse“ bezeichnet hat und meinte, dass man „die ganzen Banlieues mit einem Hochdruckreiniger von diesen Menschen reinigen müsste“. Thuram sagte dazu: „Wenn Sie diese Menschen als Gesindel bezeichnen, fühle ich mich auch angesprochen, da ich auch aus so einer Banlieue komme.“ […] Lilian Thuram hat mehrere Bücher und Graphic Novels veröffentlicht, die sich mit Rassismus auseinandersetzen. Sein Buch «La pensée blanche» ist unter dem Titel «Das weiße Denken» 2022 auf Deutsch erschienen.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Lilian Thuram aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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