Anja Röhl: Das Elend der Verschickungskinder

Von November bis Dezember 1972 kam ich für sechs Wochen zur Kinderkur nach Borkum. Meine Erinnerungen an diese Zeit sind eher angenehm, freundliche und zugewandte Menschen, Bastelnachmittage, Ausflüge an den Strand und Aufhacken des steinhart gefrorenen Sandes in den Dünen. Nur wenig Heimweh, keine Sterneküche, aber auch kein schlechtes Essen.  Nachmittags gab es Kakao und Kuchen. Ich hatte Glück gehabt. Viele andere Kinder nicht. Anja Röhl hatte selbst schlechte Erfahrungen als Verschickungskind gemacht. Sie entdeckte 2019 das Trauma der Verschickungskinder und machte es in der Öffentlichkeit sichtbar. So gründete sie als Betroffene im September 2019 einen Verein: «Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung e. V.», dazu gibt es auch eine Website zur Vernetzung. In ihrem Buch geht es um die Geschehnisse in den Heimen von der Nordsee bis Berchtesgarden. Von denen sie erfuhr, als sie eine Website öffnete, wo sich Betroffene melden und ihre Geschichten erzählen konnten, die ihnen auf diesen Verschickungen passierten. Es geht um Misshandlungen, Prügel, Demütigungen, sexuellen Missbrauch bis hin zum Tod von Kindern. Wenn man diese Geschichten liest, denkt man, dass so etwas eigentlich undenkbar ist, doch es sind persönliche und authentische Schilderungen. Doch es ist nicht nur das Ziel öffentlich zu machen, was da im Namen von Gesundheit und Erholung den Kindern zustieß. Anja Röhl zeigt auch, dass die Folgen der NS-Ideologie und -Pädagogik noch lange über das Ende des zweiten Weltkrieges hinaus wirksam waren.

Deutschlandfunk KulturGewalt und Demütigungen statt Ruhe und Erholung

So bilden die Schilderungen der ehemaligen Verschickungskinder den zentralen Teil des Buches. Dass es sich dabei nicht um Einzelfälle handelt, zeigt schon die schiere Zahl an Zuschriften, die Anja Röhl in recht kurzer Zeit bekommen hatte. Es waren auch nicht einzelne Regionen, sondern die betroffenen Heime finden sich im gesamten damaligen Bundesgebiet, aus der DDR liegen noch keine Auswertungen vor. Man muss sich dabei vor Augen halten, dass die „Strafen“ nicht wegen bewusster Regelverletzungen oder wegen Missverhaltens erfolgten, sondern aufgrund von nicht steuerbarem Verhalten der Kinder wie Weinen wegen starken Heimwehs, Angst, Einnässen bei Verboten, auf die Toilette zu gehen und vielen seelisch bedingten Auswirkungen. Es wurden ja schon Kinder von zwei oder drei Jahren verschickt und für sie völlig unverständlich aus ihrer vertrauten Umgebung heraus gerissen. Die betreuenden Menschen, in fast allen Fällen Frauen, hatten selten pädagogische, geschweige denn psychologische Vorbildung. Kleine Kinder nachts nackt auf dem kalten Flur stehen zu lassen, sie in Abstellkammern zu sperren, ihnen Essen und Wasser zu entziehen und was noch sonst alles geschah, geht einem schon manchmal ziemlich nahe. Erst recht, wenn man selbst Kinder hat. Am Anfang vorgeschaltet ist eine Historie der Kinderverschickung bis zurück in die Weimarer Zeit. Die Verschickungen endeten in den Achtziger Jahren, als die Kinderverschickung durch Mutter-Kind-Kuren abgelöst wurde. Diese Historie zeigt aber auch, dass das Betreiben der Heime ein wesentlicher wirtschaftlicher Faktor in den Kurorten war, besonders in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, als kaum jemand Urlaub machte.

Im letzten Teil, aber schon angedeutet im ersten, sucht Anja Röhl nach den persönlichen und strukturellen Gründen für diese Misshandlungen von Kindern. Sie zeigt sehr plausibel, dass die Behandlung von Kindern von den Fünfzigern bis in die Achtziger eine nicht aufgearbeitete Fortsetzung genau der Methoden war, die spätestens das Dritte Reich predigte. Das Kaiserreich war da nicht besser, die Weimarer Republik bis 1928 jedoch ein Hort der Reformpädagogik.  Doch mit der Nazi-Herrschaft änderte sich diese Haltung gegenüber Kindern sehr schnell. Kinder zu absolutem Gehorsam erziehen, Weiches, Zärtliches und Kreatives abtöten. Schon in frühen Büchern des 20. Jahrhunderts beschrieben Ärzte, nicht Pädagogen, wie die Erziehung von Kindern zu erfolgen habe. „Affenliebe“ der Mutter wäre schädlich für die Sozialisierung der Säuglinge und Kinder, Hochnehmen bei Weinen unangebracht. Die Grundlagen der schwarzen Pädagogik. Bis eben zu den Vorstellungen der Nazis, die Kinder seien Eigentum des Führers, sollten zu Härte, Hass und Mitleidlosigkeit erzogen werden. Wie in der Hitlerjugend und im BDM. Viele der Leitungen in den Heimen der Nachkriegszeit waren unter solchen Vorstellungen und Erfahrungen aus der Nazi-Zeit in die Nachkriegs-Zeit gegangen. Und diese Geschichte zeigt, wie punktuell und selektiv das Dritte Reich in der jungen BRD aufgearbeitet wurde. Zurück blieben Kindern, die unter diesem Mangel leiden mussten, traumatisiert, geschädigt. Die dann noch von ihren Eltern hören mussten, die Kinder hätten das Treiben in den Heimen erfunden oder zusammen phantasiert.

Anja Röhls Buch ist dennoch keine wissenschaftliche Darstellung, sondern eine mehr historische und persönliche. Sie möchte diesen misshandelten Kindern heute eine Stimme geben. Röhl bezieht sich darin schon auf wissenschaftliche Arbeiten anderer Leute, zitiert Statistiken und weitere Untersuchungen. Stellt aber immer wieder fest, dass in den Selbstdarstellungen von Kinderheimen und Kurorten bestimmte zeitliche Abschnitte ausgeblendet werden. Als wenn es diese Misshandlungen nie gegeben hätte. Das Buch ist also in Abschnitten keine objektive Betrachtung, sondern gibt den Opfern viel Raum. Und in der Tat fragt man sich nach dem Abklingen einer Betroffenheit, wie viele immer noch ungehörte Stimmen es in unserer Gesellschaft gibt.

Anja Röhl (geboren 1955 in Hamburg) ist eine deutsche Autorin, Sonderpädagogin, Dozentin und Germanistin. Sie ist die Tochter des Journalisten und Autors Klaus Rainer Röhl und die Stieftochter der Autorin und RAF-Terroristin Ulrike Meinhof. […] Im Jahr 2013 veröffentlichte Anja Röhl ihre Erinnerungen an ihre Kindheit unter dem Titel Die Frau meines Vaters: Erinnerungen an Ulrike in Form eines in der dritten Person verfassten literarischen Werks. Sich selbst bezeichnet sie darin als „das Kind“, ihr Buch sei „allen Scheidungs-, Trennungs- und Heimkindern gewidmet“, schrieb sie im Vorwort. Die Kindheit ist bedrückend dargestellt, neben der kalten, abweisenden Mutter und dem herrischen übergriffigen Vater beschreibt Röhl auch die brutalen Erziehungsmethoden der Erzieherinnen und Lehrer der 50er und 60er Jahre. „Das Kind will schnell erwachsen sein“, schreibt sie, „es ist nicht gern Kind. Kind sein heißt allein sein, schuld sein, essen müssen, schlafen müssen, brav sein müssen. Kind sein heißt, sich nicht wehren zu können.“ […] Seit 2009 beschäftigt sich Anja Röhl mit den Erlebnissen sogenannter „Verschickungskinder“, die in den 50er und 60er Jahren in der gesamten Bundesrepublik Deutschland für mehrwöchige Kuraufenthalte in Heimen untergebracht und dort von Erzieherinnen zum Teil schwer misshandelt worden waren. Ausgangspunkt ihres Engagements war ein Text über ihre eigenen demütigenden Erfahrungen in einem Heim in Wyk auf Föhr, den Röhl 2009 in der jungen Welt veröffentlicht hatte. Sie betreibt die Internetseite verschickungsheime.de, auf der Erfahrungsberichte veröffentlicht werden und organisierte im November 2019 einen Kongress zum Thema auf Sylt mit über 70 Teilnehmern. Die Initiative Verschickungskinder wurde von ihr mitgegründet. Röhl hat ein Buch mit dem Titel «Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt« geschrieben, das im Januar 2021 erschienen ist.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Anja Röhl aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

2 Kommentare
  1. Ludwig Kartsch
    Ludwig Kartsch sagte:

    Ich war 3 mal in den 50er und 60er Jahren in Haiger, Onstmettingen und Sylt.
    Ich kann jedoch keine negativen Erlebnisse schildern.

    Antworten
    • Rainer
      Rainer sagte:

      Hallo Ludwig,

      das war bei mir selbst auf Borkum ja auch so. Ich erinnere mich eher gerne daran. Aber einige Leute haben wohl andere Erfahrungen gemacht.

      Grüße

      Rainer

      Antworten

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