Christiane Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern
Tatsächlich erschien dieses Buch in der Rubrik „Sachbuch“. Was es eigentlich nicht ist, jedenfalls nicht im Sinne einer philosophischen, sozialwissenschaftlichen oder politischen Betrachtung. Es ist eher vielleicht ein Essay, aber es ist keine Fiktion. Auf jeden Fall ist es ein sehr persönliches Buch der Journalistin Christiane Hoffmann. Hoffmann ist die Tochter eines Vertriebenen, der kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges seine schlesische Heimat, das Dorf Rosenthal, wegen der vorrückenden Russen verlassen musste. So beginnt der Trek des damals Neunjährigen, mit seiner Mutter und anderen Verwandten, in Richtung Westen. Es ist Februar 1945, nur mit wenigen Habseligkeiten auf einem von Pferden gezogenen Leiterwagen legen sie die weite Strecke zurück, durch Tschechien bis an die Grenze zu Sachsen, damals noch in den Grenzen von 1939. Er landet irgendwann in Wedel bei Hamburg, dort lässt er sich nieder, baut sich sein Leben auf. In seine Heimat sollte er nie zurückkehren können, wegen der Westverschiebung Polens. Doch das ist nur die Einleitung der Geschichte. Die Gedanken zurück, der Verlust der Heimat bleiben in den Erinnerungen des Vaters verhaftet. Prägen nicht nur sein weiteres Leben. Nach dem Krieg und nach dem Zerfall des Ostens kehrt die Familie auf Besuch zurück nach Rosenthal, Christiane, ihre Eltern und ihr Onkel Manfred. Inzwischen ist der Hof des Vaters von Polen bewohnt, auch wenn sich das Dorf selbst kaum verändert hat. Das Dorf, das jetzt Rózyna heißt. Ihr Vater stirbt in 2018 und Christiane Hoffmann fasst einen Entschluss. Sie macht sich auf den Weg, den Fluchtweg ihres Vaters nachzugehen. Und sie schreibt auf, was sie erlebt, wie es sich anfühlt und wie die Reise ihr hilft, zu verstehen.
Am 22. Januar 2020 macht sich Christiane Hoffmann in dem Dorf, das mal Rosenthal hieß, im früheren Niederschlesien auf den Weg. Sie läuft wieder die 550 Kilometer nach Westen, es ist weitgehend der Weg, auf dem ihr Vater im Winter 1945 vor der Roten Armee geflohen ist. Sie sucht nach der Geschichte und ihren Narben. Sie kämpft mit Regen und Hagelstürmen, durchquert sumpfige Wälder. Sie besucht Kirchen, Küchen und verweilt in guten Stuben. Sie führt Gespräche, mit anderen Menschen und mit sich selbst. Allein? Allein. Zu Fuß? Zu Fuß. Ihr Buch überträgt die Erinnerung an Flucht und Vertreibung ins 21. Jahrhundert und mahnt an die Schrecken des Krieges, es verschränkt die Familiengeschichte mit der Historie, mit Zeitzeugenberichten der Begegnungen auf ihrem Weg. Doch es ist vor allem ein sehr persönliches Buch, geschrieben in einer literarischen Sprache, eine Suche nach dem Vater und seiner Geschichte, nach dem, was er verdrängte, um zu überleben. Doch im Grunde ist sie auch auf der Suche nach anderen Antworten. Sie sucht nach der Vergangenheit in der Gegenwart. Ob es tatsächlich so ist, dass die Erinnerungen und Traumata von Verlust und Vertreibung, von Krieg und lebensgefährlichen Geschehnissen tatsächlich auf kommende Genrationen weiter gegeben werden. Ob die seelischen Narben der Eltern noch in ihren Kindern weiter wirken. Eine Art von Selbsttherapie.
Natürlich geht es nicht nur um Hoffmanns Leben und ihre Erfahrungen. Es geht um die Erfahrungen vieler Menschen, die im Laufe der Geschichte vertrieben wurden, oder fliehen mussten. Menschen, die im Buch noch zu Worte kommen. Vom Mittelalter bis in dieses Jahr 2022, als Ukrainer vor den Russen flüchteten. Man mag die Aufwände und Klagen, die Vertriebene aus Schlesien oder Ostpreußen seit Ende des Zweiten Weltkrieges treiben, belächeln, kann sie nicht nachvollziehen, geschweige denn verstehen. Man müsse sich doch einfach damit abfinden, es sei schließlich das deutsche Reich gewesen, das den Krieg begonnen habe, die Vertreibungen der Deutschen als Sühne für die Verbrechen, die im Namen der Deutschen begangen wurden. Christiane Hoffmann gelingt es, dieses Unverständnis zu einem Teil aufzubrechen, weil es um mehr als nur um Flucht und Vertreibung geht. Es geht auch um Heimat und Identität, Herkunft und Familie. Und wie wichtig diese Begriffe sind. Zu wichtig, um sie Rechten und Rechtspopulisten zu überlassen.
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