Joseph Henrich: Die seltsamsten Menschen der Welt

Joseph Henrich und einige Kolleginnen und Kollegen, die darüber forschten, wie sich verschiedene Kulturen selbst sehen und wie sie andere Kulturen sehen, kamen auf die Idee, sich kulturübergreifende Forschung dazu anzusehen. Bei genauerem Analysieren stellten sie erstaunliche Dinge fest. Erstens handelte es sich in den Studien um massiv verzerrte Stichproben, 96% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer stammten aus Nordeuropa, Nordamerika oder Australien. Zweitens deutete sich an, dass die psychologischen Unterschiede zwischen Bevölkerungen viel größer zu sein schienen, als die Fachliteratur erwarten ließ. Und wenn drittens kulturübergreifende Daten aus mehreren Populationen verfügbar waren, fanden sich die Stichproben der Westler typischerweise am extremen Ende der Verteilung. Mit anderen Worten, westliche Menschen waren psychologisch sonderbar. Doch das waren nicht die einzigen Fragen, mit denen Henrich zu tun hatte. Die anderen waren zum Beispiel, warum gerade die westlichen Kulturen, also Mittel- und Nordeuropa sowie die angloamerikanische Welt, wirtschaftlich so erfolgreich waren oder warum die industrielle Revolution gerade in Europa begann, und nicht irgendwo sonst. Diese Fragen sind durchaus faszinierend, so bestellte ich das Buch, wunderte mich schon etwas über den hohen Preis. Als dann der Buchhändler meines Vertrauens die gut sechs Zentimeter Buch auf den Tresen legte, stöhnte ich kurz auf. Es hat nur ein ähnlich dickes Buch in meinem Leben gegeben. Das war J. F. Coopers Roman »Lederstrumpf«, und auch das habe ich nicht durchgehalten. Dass ich dieses Mal standhaft blieb, liegt nicht nur an meinem fortgeschrittenen Alter, sondern auch am erhellenden Inhalt des Werkes. Wobei erhellend ausgesprochen untertrieben ist.

Joseph HenrichDie seltsamsten Menschen der Welt

Es gibt noch viele weitere Fragen, die nicht nur mich beschäftigten. Warum entwickelte sich der Islam zuerst so prächtig, um nicht viel später gegenüber dem Christentum in eine quasi mittelalterliche Kultur zu verfallen? Warum benehmen sich die arabischen Clans in den Großstädten so merkwürdig in ihrem kriminellen Verhalten und der exzessiven Gewalt? Warum sind sie nicht in der Lage oder nicht willens, sich an die gängigen Gesetze und Normen zu halten? Wie und warum wurde das Christentum so eine mächtige und gestaltende Kraft, fast überall auf der Welt? Sehen Japaner, Chinesen oder Jäger und Sammler im australischen Busch oder auf Südamerikas Hochebenen die Welt genau so wie ich? Wenn nein, warum nicht? Henrichs Antworten sind zuerst verstörend. Weil wir westliche Menschen sind, und als solche eben sonderbar. Unsere Psychologie, also unsere Werte, Sichtweisen und selbst unsere Wahrnehmung ist anders als bei der überwältigenden Mehrheit der Menschen auf dieser Welt. Wir denken analytisch, sehen auf einem Bild zuerst die Details, nicht das gesamte Bild. Im Vordergrund unseres Denkens und Handelns stehen wir als Individuen, nicht als Gruppe oder Familie, Clan oder »Kindred«. Wir vertrauen Fremden in mindestens einem gewissen Rahmen, ein Aborigine würde einen Fremden in seinem Revier erst umbringen, dann fragen. Noch viele weitere psychologische Prägungen sind bei uns Westlern ganz anders als beim überwiegenden Teil der Menschheit. Warum?

Die eine große Antwort gibt es nicht. Das ist auch der Grund, warum das Buch so dick geworden ist. Es waren viele Faktoren, die jedoch in gewisser Weise zusammen hängen. Die erste entscheidende Phase war das Frühmittelalter, als das Christentum seine beherrschende Rolle bekam. Diese Religion war ganz anders gestrickt als seine Vorläufer mit wankelmütigen, unperfekten und in ihren Möglichkeiten beschränkten Göttern. Was der Grund des Erfolges des christlichen Glaubens war. Die Kirche baute die Gesellschaft mit ihrem Familien- und Ehemodell grundlegend um. Vetternehen wurden untersagt, Erbfolgen umgebaut und universale moralische Prinzipien erledigten den Rest. Der Übergang zur monogamen Ehe hatte nicht nur weitreichende Folgen für die Struktur der Gesellschaft, sie veränderte sogar die Psychologie der Menschen. Clans und Erbhierarchien wurden zerstört. Doch noch anders wirkte die Kirche. Nach der Bibelübersetzung und der Erfindung des Buchdruckes konnten nirgendwo auf der Welt so viele Menschen lesen wie in Mittel- und Nordeuropa. Dazu betonte die reformierte Theologie die Eigenverantwortung jedes Menschen für sein Heil. Aus Mitgliedern von Clans und Familienverbänden wurden mobile, variable Bürgerinnen und Bürger. So kam die Urbanisierung, so entstanden die Märkte, Gilden, Zünfte und sogar Universitäten. Während in China und Russland weiter lustig innerhalb von Familien geheiratet wurde und universelle, niedergeschriebene Gesetze undenkbar waren. Man ahnt, wo der Zug hingeht und warum die westlichen Menschen immer sonderbarer wurden. Die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen machten psychologische Anpassungen notwendig. Ihre gesamte Denkweise und Wahrnehmung veränderte sich. Doch daraus resultierten genau ihr wirtschaftlicher Erfolg und ihre technologischen und gesellschaftlichen Fortschritte. Nur ein Beispiel dazu. Im 15. Jahrhundert waren zunehmend Uhren an Kirchtürmen zu finden, ab dem 16. Jahrhundert kamen Taschenuhren auf. Handwerker mit einer Taschenuhr bewiesen ihre Zuverlässigkeit und Genauigkeit, 70% der Angestellten hatten eine. Zu dieser Zeit galten mechanische Uhren in der islamischen Welt als »Mühlen des Teufels«. Während nun Uhren die Arbeit und den Alltag takteten, bestimmten die Tagesstruktur in der arabischen Welt weiter nur die Muezzine.

Dass das Buch nun so umfangreich wurde, liegt an der genauen Hinführung und statistischen Beweisführung des Autors. Unzählige Studien, Untersuchungen und Experimente werden aufgezeigt, mit vielen Grafiken und Tabellen. Die Beweisführung von Joseph Henrich ist detailliert, gleichzeitig schlüssig und plausibel. Nun aber zu meinen, die statistischen Schwerpunkte würden das Buch schwer lesbar machen, wird eines Besseren belehrt. So frappierend und faszinierend das Thema, so lesbar und teilweise unterhaltsam ist das Buch gelungen. Sein Wert liegt für mich nicht in seiner wissenschaftlichen Genauigkeit, sondern in den dargelegten Schlüssen. Man bekommt eine Ahnung, warum man das Verhalten und die Entscheidungen anderer Menschen schwer nachvollziehen kann. Nicht nur zwischen den Kulturen, sondern sogar innerhalb der eigenen. Es sind die Auswirkungen anderer Sichtweisen auf die Welt, auf seine Handlungen und moralischen Eckpunkte. Ob die Bindungen in der Familie die wichtigsten sind, oder moralische transzendente Überzeugungen. Der Abschied vom Glauben, die Anderen müssten es doch genau so sehen wie ich. Exemplarisch vorgeführt an den Resultaten der Experimente des Autors rund um die Welt. Es gibt wenige Bücher, die meine Sicht auf die Welt verändert haben. Das steht in diesem Sinne ganz vorne.

Joseph Patrick Henrich (* 6. September 1968 in Norristown, Pennsylvania) ist ein kanadischer Anthropologe. Er war Professor für Kultur, Kognition und Koevolution an der University of British Columbia (UBC). Seit 2015 ist er Direktor und Professor des Department of Human Evolutionary Biology der Harvard University. Joseph Henrich studierte zunächst Anthropologie (B.A., 1991) und Luft- und Raumfahrttechnik (B.S., 1991) an der University of Notre Dame. 1991–1993 arbeitete er bei General Electric als Systemingenieur. Seinen M.A. (1995) und seinen Ph.D. (1999) erhielt er von der University of California, Los Angeles in Anthropologie. Von 1999 bis 2002 war er als Gast-Juniorprofessor an der University of Michigan und von 2001 bis 2002 als Wissenschaftler am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Von 2002 bis 2007 war Henrich Professor an der Emory University; seit 2006 an der UBC. Henrich hat in den Gebieten Soziokulturelle Evolution, Evolution von sozialen Normen, Evolution der Kooperation, Evolution von Prestige und Dominanzhierarchien, Religion, Methodik, kulturelles Lernen, Ethnographie und Sozialverhalten der Schimpansen geforscht und publiziert. In seiner Arbeit hat er auf das WEIRD-Problem hingewiesen – psychologische Fragestellungen werden oftmals anhand westlicher Probanden erforscht, ohne Rücksicht darauf, ob dieselben psychologischen Mechanismen auch in anderen Kulturen vorhanden sind.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Joseph Henrich aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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