Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären

Anne Applebaum ist hier zu Lande eher unbekannt. Sie schreibt überwiegend für US-amerikanische und britische Medien, früher, vor der Ausschaltung des unabhängigen Journalismus in Polen, auch für polnische Zeitungen. Nicht nur durch ihre Anerkennung als Journalistin, sondern auch durch ihren Ehemann, den früheren polnischen Außenminister Radek Sikorski, hat sie ihren eigenen Zugang zu amerikanischen und britischen Persönlichkeiten und Politikern. So ist ihr Buch eher eine journalistische Arbeit, wenn auch mit historischen Details und Themen belegt. Anne Applebaum hat die politischen Veränderungen in Polen selbst erlebt, wie sich enge Freunde von einer konservativ-liberalen Haltung zur Befürwortung von Nationalismus und autoritären Positionen wandten. Doch diese Veränderungen sind keine einzelne Entwicklung in Polen. Ob Ungarn und Orban, Spanien und die Vox, die USA mit der Alt-Right-Bewegung, an vielen Stellen wenden sich Menschen von den Grundprinzipien der Demokratie ab. Stattdessen wird Verschwörungsmythen, platten Lügen und Halbwahrheiten gefolgt. Diese Positionen seien keine Entwicklung der Neuzeit, sie seien schon im 19. Jahrhundert weit verbreitet gewesen. Ist also mal wieder das Internet schuldig, sind Facebook und Twitter, Telegram und YouTube die Verantwortlichen? Ganz so einfach sei die Sache nicht, aber wie immer ist darin ein Körnchen Wahrheit enthalten.

Was ist an der heutigen Zeit so anders geworden als an der in den Siebzigern und Achtzigern? Diese früheren Jahre waren geprägt von einer weitgehend harmonisierten Diskurskultur. Es gab die großen Zeitschriften und Magazine, es gab überwiegend öffentlich-rechtliche Medien, Journalisten kuratierten Meldungen und Meinungen. Heute diskutieren Rechtsradikale aus Deutschland mit Faschisten in Italien, Evangelikalen in den USA. Sie verbünden sich nicht mit Gruppen mit gleichen Werten, sondern mit gleichen Zielen. Ein Ziel, hinter da sich viele stellen können, ist der Umsturz der demokratischen Staaten und Regierungen. So merkwürdig das zuerst klingt, sieht Applebaum diese Tendenzen in einem speziellen Zusammenhang. All die Nostalgie, von den Träumen von einer angeblich besseren Vergangenheit, bis zum Rücksturz in diese Zeit, nutzen diese rückwärts gerichteten Kräfte gerade das, was sie erst in diese prekäre Lage gebracht hat. Globalisierung, eine immer komplexere und schwerer zu durchschauende Welt, die Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit und das Gefühl, die eigene Wirkmächtigkeit verloren zu haben. Zwei Seiten der gleichen Medaille, das Internet als Ursache und Waffe gegen eine liberale, offene und globalisierte Gesellschaft. Dort sieht Applebaum die wesentlichen Triebfedern, Angst und Nostalgie. Bei den Brexiteers wie bei der AfD wie in den USA bei den Evangelikalen.

Das ist im Grunde schon der wesentliche Faden im Buch. Mit journalistischer Sicht auf die Welt reist die Autorin durch ihre Heimat Polen, aber auch durch Großbritannien, die USA und Spanien. Vergleicht die historische und politische Situation heute und sowohl vor als auch nach dem zweiten Weltkrieg. Was in Polen und Ungarn nach 1989 passierte, woran es sich festmachen lässt. Wie sich Menschen, die man gut zu kennen glaubte, veränderten und anpassten. Nicht, weil sie mussten, sondern weil sie es wollten.  In der Regel mit der Sehnsucht nach einer harten und starken Hand, die das Leben wieder regelt und leitet. Die die Unüberschaubarkeit und Verwobenheit des modernen Lebens, und der Politik, wieder auf klare und einfache Prinzipien zurück führt. Das Buch ist somit ein Streifzug und eine detailgenaue Betrachtung dieser Entwicklungen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es geht Applebaum nicht um Wahrheitsfindung oder das Entdecken der großen, einmaligen Lösungen. Sie beginnt bei ihrer eigenen Vergangenheit, Silvester 1999, zeichnet auf, welche Veränderungen sie in Staaten und in Menschen beobachtet hat und versucht, nicht zu erklären, sondern zu verstehen. Da sie das aus ihrer ganz eigenen Warte, mit ihren eigenen Erfahrungen und Erlebnissen tut, ist das Buch realistisch, mit vielen Einzelheiten gespickt, ergänzt um teilweise kuriose Blicke auf die seelische Verfasstheit der ZeitgenossInnen. So ist das Buch keine historische Analyse, keine politische Wertung, geschweige denn der Versuch einer Antwort. Es ist das galoppierende Leben. Interessant deshalb, weil es von einer sehr wachen und reflektierten Frau stammt.

Anne Elizabeth Applebaum (* 25. Juli 1964 in Washington, D.C.) ist eine US-amerikanische Journalistin und Historikerin. Ihre Arbeiten über die jüngere Geschichte Osteuropas wurden mehrfach ausgezeichnet. […] Applebaum begann ihre journalistische Arbeit 1988 als Korrespondentin des Economist in Warschau. Von 2002 bis 2006 war sie Mitglied des Redaktionsausschusses der Washington Post. Sie schreibt weiterhin Op-Eds für die Washington Post. Zudem hat sie für The New York Review of Books, The Wall Street Journal, The New York Times, Financial Times, International Herald Tribune, Foreign Affairs, The New Criterion, The Weekly Standard, The New Republic, National Review, The New Statesman, The Independent, The Guardian, Prospect, Die Welt, Cicero, Gazeta Wyborcza, The Times Literary Supplement und weitere Zeitungen und Zeitschriften geschrieben. Applebaum war im Frühjahr 2008 Fellow an der American Academy in Berlin. Im selben Jahr wurde sie vom US-amerikanischen Magazin Foreign Policy zu den hundert einflussreichsten Intellektuellen gezählt. In London leitete sie eine Abteilung des Legatum Institute, eines Thinktanks zur Förderung von Demokratie und Kapitalismus. Sie hat an verschiedenen Hochschulen in den USA (Yale, Harvard, Columbia und Texas A&M, Houston), in Großbritannien (Oxford, Cambridge, London und Belfast), in Deutschland (Heidelberg und Humboldt, Berlin), in Maastricht und Zürich gelehrt. 2012–2013 hatte sie den Phillipe-Roman-Lehrstuhl für Geschichte und Internationale Beziehungen der London School of Economics inne. Ende 2019 beendete Anne Applebaum ihre Tätigkeit als Kolumnistin bei der Washington Post und wechselte als „staff writer“ zur Zeitschrift The Atlantic. Weiterhin ist sie Professor „of Practice“ an der London School of Economics und „senior fellow“ an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Anne Applebaum aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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