Michael Seemann: Die Macht der Plattformen

Als das Internet sich Anfang der 1980er verbreitete, war es ein Medium der Wissenschaftler und Ingenieure. Der Zugang war beinahe elitär und mühsam. Mitte der 1990er, mit dem World Wide Web, nutzten es zunehmend auch Privatleute, besonders Musiker, Journalisten, Verlage und erste Online-Händler. Kommerziell wurde das WWW erst mit dem Jahrtausendwechsel. Bestand das WWW dort noch aus Abertausenden kleiner und gleichberechtigter Server, wird das Internet im 21. Jahrhundert vor allen Dingen von den großen Plattformen beherrscht, Facebook und Google, Amazon und Instagram, Microsoft und Apple. Der Begriff der Plattform in diesem Sinne ist relativ jung, doch Plattformen im technischen Sinne gibt es schon lange. Technologisch war es zum Beispiel das System /360 von IBM. Zum ersten Mal versprach der Hersteller, dass alle ab jetzt investierte Software und Hardware praktisch unbegrenzt über die weitere Entwicklung hinaus genutzt werden konnte. Andere Plattformen kamen auf, obwohl sie noch nicht so genannt wurden. Der Apple II, der IBM-PC, später Smartphones mit Android und iOS. Was diese Plattformen sind, wie sie ihre Macht in Netz, Gesellschaft, Kultur und Politik gewannen, wie sie funktionieren und warum, stellt Michael Seemann in diesem nicht gerade schmalen Buch vor. Er beginnt mit der aus seiner Sicht ersten disruptiven Netzanwendung: Napster. Napster stellte nicht nur technisch eine Neuerung dar, sondern forderte zum ersten Mal Wirtschaft und Politik heraus. Der MP3-Tauschdienst ging unter, doch er hatte eine riesige Welle ausgelöst, die nicht nur das Netz, sondern auch unser Verständnis von Gesellschaft und Wirtschaft grundlegend verändert hat. Ohne dass wir es so richtig mitbekommen haben.

Als Informatiker, Diplom 1982 in Dortmund, sind mir IT und Netzwerke so vertraut und selbstverständlich wie Messer und Gabel. Meinen ersten Computer habe ich Ende der Siebziger noch selbst gebaut. So dachte ich, ich wüsste sehr viel über die heutige Technologie-Landschaft. Nach diesem Buch muss ich eingestehen, die politischen und kulturellen Konsequenzen völlig verpasst zu haben. Seemann beginnt mit der historischen Entwicklung dessen, was wir heute als Plattformen bezeichnen. So unterscheidet er zwischen verschiedenen Typen, wie der Schnittstellen-Plattform, der Protokoll-Plattform bis hin zur Dienste-Plattform. Plattformen können völlig in der Hand ihres Besitzers bleiben, wie die Plattform iOS bei Apple, oder sich verselbstständigen, wie der IBM-PC oder das Protokoll TCP/IP, auf dem das Internet basiert. Ihre Macht beziehen die Plattformen aus den Netzwerken, was in die Theorie und Praxis aller Netze führt, von technischen Netzen bis hin zu den BenutzerInnen des Internets. Erstaunlich, wie viele unterschiedliche Arten von Netzen es gibt, und wie sich das auswirkt. Plattformen sind geopolitisch und territorial unabhängig geworden, ihre Wirkung gründet auf einer ganz anderen Struktur als konventionelle Herrschaftsformen. So global ihre Verbreitung, so tiefgehend ihr Einfluss. Seemann lässt es niemals bei theoretischen Betrachtungen und Behauptungen, er zeigt die Konsequenzen der Machtverschiebung immer praktisch. In den USA bei Hillary Clinton bis Donald Trump, der NSA und Edward Snowdon, von eben Napster bis zu Facebook, bei den politisch motivierten Technologien in China und Russland. Die gesamte Bandbreite, die Seemann behandelt, die Folgen und Auswirkungen der Digitalisierung und Vernetzung, eben der Macht der Plattformen und die mannigfaltigen Veränderungen der Gesellschaften bis in das Politische durch sie, machen eine überschaubare Inhaltsangabe schwierig.

Ein politisches Buch für Informatiker ist Die Macht der Plattformen trotzdem nicht. Zwar hat mir die eigene berufliche und persönliche Historie beim nicht immer einfachen Verständnis des Buches geholfen, doch Seemann geht es mehr um politische und wirtschaftliche Aspekte. Darum kommt man in dem Buch nicht um eine Vielfalt von Definitionen und Abhandlungen herum, die zum Verständnis des Wirkens der Plattformen notwendig sind. Die eigentliche Lehre ist, dass wir über eine erkleckliche Menge von Interna, Details und versteckten Verbindungen nicht informiert sind. Das Thema hat sich von ein paar simplen vernetzten Anwendungen wie E-Mail und Newsgroups zu einer Weltmacht der Plattformen entwickelt. Ihren Einfluss schätzen wir unzureichend ab, ihre Auswirkungen tröpfeln hier und da beschaulich in unser Leben ein. Wie immens die Internetgiganten die Welt verändert haben, ist uns nur allzu selten bewusst. Doch die Entwicklung ist nicht rückgängig zu machen, sie hat nicht nur negative Aspekte. Denkt man an Begriffe wie digitale Allmende, offene Standards, Creative Commons und globale Kommunikation ohne Zensur, offenbart sich die Zwiespältigkeit der Plattformen. Sie sind eben nicht nur gut oder böse, sie haben Potential, neues Denken und Handeln zu erlauben. Auf der anderen Seite stehen Manipulation, Fördern einer Konsummentalität und Einflussnahme, wo sie nicht sein sollte. Das alles bringt Seemann in einem umfangreichen, aber immer lesbaren und teilweise sogar spannenden Format zusammen. Wer wirklich wissen möchte, wie „das Netz“ funktioniert, wie seine Geschichte aussieht und wohin es uns geführt hat, wie tiefgreifend die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen der letzten drei Jahrzehnte sind, kommt um diesen Schmöker nicht herum. Es gibt nicht viele Bücher, über die ich sagen würde, dass ich durch sie eine Menge gelernt habe. Doch dieses gehört definitiv dazu.

Michael Seemann (* 12. Juli 1977 in Wolfsburg, Pseudonym: mspr0 oder mspro) ist ein deutscher Kulturwissenschaftler, Sachbuchautor und Journalist. Er hält Vorträge und Seminare an der Universität zu Köln und der Universität der Künste Berlin, wird als Sachverständiger zu Online-Themen bestellt und ist als Blogger mit verschiedenen Projekten im Internet aktiv. […] Anfang 2010 begann Michael Seemann den Blog CTRL-Verlust bei der Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nach einem Streit um Bildlizenzen betreibt er ihn seit Sommer 2010 in Eigenregie als Wissensplattform rund um den Kontrollverlust im Internet. Der Medienwissenschaftler Robin Meyer-Lucht sah im Ende der Zusammenarbeit einen „Clash der publizistischen Kulturen“, zumal Seemann selbst einräumte, „fast immer entgegen der Redaktionslinie geschrieben“ zu haben. Die FAZ bestritt allerdings gegenüber CARTA einen systematischen Konflikt. 2014 legte er seine Thesen in dem Buch Das neue Spiel. Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust vor. Wir. Müssen Reden (WMR) ist ein seit Oktober 2009 in unregelmäßigen Abständen von Seemann produzierter, meist mehrstündiger Podcast. Mit seinem Mit-Produzenten Max von Webel sowie Gästen wie zum Beispiel Antje Schrupp, Sascha Lobo, Stefan Niggemeier oder Anne Helm bespricht er hier aktuelle Themen aus Netzpolitik und Weltgeschehen. 2008 gründete Seemann gemeinsam mit André Krüger twitkrit, das den Twitter-Tweet als eigene Literaturform sah und bis 2011 jeden Tag einen Tweet besprach. Der Spiegel bezeichnete das Projekt als „Kritikerportal“ für „Twitteratur“, eine „Fundgrube für gute Aphorismen“.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Michael Seemann aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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