Andreas Speit: Verqueres Denken
Gegner der Corona-Maßnahmen und Corona-Leugner aus der sogenannten bürgerlichen Mitte, Reichsbürger und Rechtsradikale sowie AfD-Leute und andere Rechtspopulisten marschieren einträchtig durch deutsche Städte, um ihren Protest zu artikulieren. Wenn nicht gar das Ende dieses Staates auszurufen. Dazwischen sieht man blaue Flaggen mit der Friedenstaube und sogar Regenbogen-Flaggen. Sowie Springerstiefel und die vertrauten Latzhosen aus der Öko-Bewegung. Was zuerst ungläubiges Erstaunen hervor ruft, drängt auf den zweiten Blick nach Erklärungen. Sind es nur gemeinsame Feindbilder und Anliegen? Ist es Ignoranz oder Unwissen, politisch wie sozial? Der Sozialökonom und freie Journalist Andreas Speit hat andere Erkenntnisse. Zwar tendiert man zuerst zu dem Glauben, Verschwörungstheorien und esoterische Weltsichten wären nur auf die jeweiligen dort verorteten Gruppen beschränkt. Doch schaut man mit Speits Blick ein wenig hinter die Kulissen und nimmt sich die Geschichte und Herkunft dieser Gruppen vor, sogar aus dem linken politischen Spektrum, wird Seltsames offenbar. Verschwörungstheorien, Antisemitismus, Rassismus und Esoterik ziehen sich wie ein roter Faden durch Bevölkerungsteile, wo man es nicht vermuten würde. Was sie eint, ist nicht die Ratio, sondern die Emotion.
Viele aktuelle Entwicklungen oder Trends, die gerade aktuell sind, würde man in der Tendenz im linken Milieu und in der Welt der Gutgebildeten verorten. Ob die Bio-Boheme, Veganer und Tierrechtsaktivisten, Anhänger der Homöopathie und alternativer Medizin, selbst die Fundis der Grünen bis hin zu Extinction Rebellion. Nimmt man deren Publikationen etwas genauer unter die Lupe und lässt Behauptungen und Selbstverständnis auf sich wirken, findet sich der Abschied von der Moderne zuhauf. Speit bezeichnet es als den Austritt aus dem Rationalen. Aber damit nicht genug. Gerade am Beispiel der Waldorf-Bewegung beweist sich, dass alte Mythen und Märchen gerne weiter gepflegt werden. So sehen sich die Waldorf-Anhänger als die großen Menschenfreunde, die Kinder in einem Maximum an Freiheit und Reflektion aufwachsen sehen wollen. Schaut man sich dagegen das Treiben an den Waldorf-Schulen an, gerade in Zeiten der Corona-Pandemie, zementieren diese Schulen immer noch das Oben und Unten, die Elite der Wissenden im Lehrkörper und die dummen Unwissenden in den Schulbänken. Aber eben nicht nur die Lehren des Herrn Steiner, dessen Rolle im Nationalsozialismus mehr als fragwürdig war, auch viele andere Glaubensgrundsätze offenbaren erschreckende Fortsetzungsgeschichten uralter Rassismen und Phantasien. Wenn dann noch PETA, die Tierrechtsorganisation, bei allen guten Absichten aktuelles Tierrecht mit dem Holocaust vergleicht, muss man historisches Bewusstsein wenigstens in Frage stellen.
Es geht Speit nicht um eine Anklage, er sucht keine Schuldigen. Viel mehr möchte er aufzeigen, dass es bedenkliche Tendenzen in gesellschaftlichen wie auch ökonomischen Entwicklungen gibt. Dazu braucht man gar nicht zu QAnon und Anti-Establishment gehen, schon in wesentlich harmloseren Trends, wie dem Veganismus, gehört der Abschied vom rationalen Selbst zum guten Ton. Ein alternatives Selbst wird immer attraktiver, nicht zuletzt durch die sozialen Medien wird die Sucht nach Aufmerksamkeit, das Abtauchen in Glaubensblasen, das Zusammenrotten in merkwürdigsten emotionalen Gemeinschaften zunehmend gesellschaftsfähig. So ist Speits Buch keine Anleitung zur Gegenwehr gegen solche Entwicklungen wie am Anfang, sondern ein Weckruf. Auf demokratiefeindliche Haltungen zu achten, zu widersprechen und entgegenzuwirken. Trotzdem feinsinnig und detailliert genug geschrieben, um beim Lesen immer wieder ungläubiges inneres Kopfschütteln auszulösen. Wie meinte Ralph Ruthe in einem Witzbild? „Alle bekloppt geworden.“
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