Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte

Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte

Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte

Hatte ich schon einmal geschrieben, dass ich Romanen eigentlich nicht viel abgewinnen kann. Wenn aber der Autor im Philosophischen Radio in WDR 5 auftaucht, bekommt ein Buch eine andere Attraktivität. Darüber wurde sein bürgerlicher Name hinter dem Pseudonym bekannt, und zum Inhalt der Geschichte gab es damit einen Spoiler. Am Ende kaufe ich solche Bücher dann doch. Pascal Mercier, bürgerlich Peter Bieri, geboren 1944 in Bern, ist ein Schweizer Philosoph und Schriftsteller. Leute wie Bieri schreiben keine normalen Romane, diese Bücher sind mehr als nur Vertreiben der Zeit oder einfach Unterhaltung. Philosophische Fragen kommen ins Spiel, nicht profan nach dem Sinn des Lebens oder nach gut und böse. Nicht einmal ganz klar wird es am Anfang, was diese Geschichte nun will, die man vielleicht selbst schon einmal durchdacht hat. Ob es um Worte, Sprache oder um die Zeit geht, oder vielleicht alles davon. Je tiefer ich in die Geschichte eintauchte, desto mehr interessierten mich die dahinter stehenden Grundfragen. Es können also dröge Philosophen tolle Stories schreiben. Zum Beispiel zur Frage, wie frei wir in unseren Entscheidungen tatsächlich sind.

Pascal MercierDas Gewicht der Worte

Ein Leben geht seine Wege, immer seine ganz eigenen, seine ganz persönlichen. Bis eine nicht erwartete Diagnose das Leben aus der Bahn des Alltäglichen wirft, alle Pläne, alle Blicke in die Zukunft werden Makulatur. Vielleicht hat man diese Situation schon selbst durchlebt, in Erwartung eines ärztlichen Befundes. Hatte ich selbst in den Neunzigern, bevor sich dunkle Punkte in der Leber als harmlose Zysten heraus stellten. Nach einem nicht gerade entspannten Urlaub zwischen Arztbesuch und CT-Termin grinste dann der Radiologe und meinte „Das ist Wasser, das sind nur Zysten. Tschüß.“ Genau an diesen Moment erinnerte mich die Geschichte von Simon Leyland, bis sich heraus stellt, dass Röntgenbilder vertauscht wurden. Doch nach der Erleichterung folgt eine merkwürdige Phase. Neue, andere Fragen tauchen auf, wie es weiter geht, was man mit dem wieder neu gewonnen Leben nun anfängt. Während der eigentliche Auslöser, das Vertauschen von Röntgenbildern, nur eine Art Initialzündung ist, folgt der Rest des Lebens des Simon Leyland eigenen Regeln. Weil das Leben nach der Erlösung nicht mehr das gleiche ist. Doch wer ist verantwortlich? Der Arzt, der nicht den Namen auf dem Röntgenbild, sondern nur auf dem Umschlag gesehen hat? Die Umstände? Diese Frage beantwortet Bieri nicht.

Der Reiz des Buches liegt nicht in der Geschichte selbst. Es sind auch nicht die zugrunde liegenden, eben auch philosophischen Fragen, die den Leser bei der Stange halten. Es ist die ausgefeilte Sprache, der Reichtum an Bildern, das Abtauchen in die Gedankenwelt des Simon Leyland, der Blickwinkel auf Personen und Geschehen wechselt ständig. Die Briefe an seine verstorbene Frau Livia, deren Verlag er übernommen hatte, der scheue Kontakt zum neuen Nachbarn Burke,sie alle machen Leyland nicht zu einer simplen Romanfigur, sondern zu einem Menschen, mit dem sich der Leser identifizieren kann, wenn nicht sogar muss. Leyland sind wir alle. Simon Leyland wird im Verlauf des Buches zu einem Vertrauten, immer wieder wechselt die Geschichte von der Vergangenheit in die Gegenwart, wie wir es auch ständig im Alltag tun. Die Linie im Buch ist nicht eine Geschichte, sondern gerade die vielen Pfade, die am Ende ein Netzwerk ergeben.

Es ist eine wirklich runde Geschichte, faszinierend erzählt, die zu eigenen Gedanken einlädt. Nicht nur über Worte und die Zeit, sondern auch über das Schreiben, über Sprache und zum Teil auch über die Frage, ob Sprache nicht genau so Teil der Identität ist. Ob Sprache Identität erst bildet. Welche Rolle spielt darin die Zeit, die jeder erlebt, doch physikalisch nur sehr schwer zu erklären ist? Liest man dann Rezensionen über dieses Buch, sind die positiven eher rar. Es kommt nämlich wie ein Roman daher, doch es ist im Grunde ein philosophischer Diskurs. Es wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet. Das kann enttäuschen. Eines ist jedoch aus meiner Sicht eindeutig ein roter Faden: Dass der Glaube, wir selbst allein würden den Lauf unserer Geschichte bestimmen, ein Irrglaube ist. So wie ein simpler Zufall, Bilder im falschen Umschlag, nicht nur das Leben des Simon Leyland komplett auf ein anderes Gleis schickt. Auch alle Menschen, mit denen er danach zu tun hat, wären ohne diesen Zufall nicht in sein Leben getreten. Nimmt man die philosophischen Grundfragen ernst, betrachtet die viele Leute als Archetypen verschiedener Leben, lässt man diese Gedanken an sich heran, ist Das Gewicht der Worte ein inspirierendes Buch, das einem viele Gedanken über das eigene Leben eröffnet. Nicht ganz einfach zu lesen, weil das Buch nicht klassischen Erzählformen folgt, keine lineare Geschichte ist. Aber letztendlich eine Quelle für eigene Gedanken zu wesentlichen Fragen unseres Daseins.

Seit seiner Kindheit ist Simon Leyland von Sprachen fasziniert. Gegen den Willen seiner Eltern wird er Übersetzer und verfolgt unbeirrt das Ziel, alle Sprachen zu lernen, die rund um das Mittelmeer gesprochen werden. Von London folgt er seiner Frau Livia nach Triest, wo sie einen Verlag geerbt hat. In der Stadt bedeutender Literaten glaubt er den idealen Ort für seine Arbeit gefunden zu haben – bis ihn ein ärztlicher Irrtum aus der Bahn wirft. Doch dann erweist sich die vermeintliche Katastrophe als Wendepunkt, an dem er sein Leben noch einmal völlig neu einrichten kann. Wieder ist Pascal Mercier ein philosophischer Roman gelungen, bewegend wie der „Nachtzug nach Lissabon.“ (Klappentext Hanser-Verlag)

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