Marco Bülow: Lobbyland
Ein Mitglied der SPD aus Dortmund kommt 2002 mit gerade mal 31 Jahren als Direktkandidat in den Deutschen Bundestag. Er ist voller Tatendrang und Sendungsbewusstsein, hat hehre Vorstellungen von Politik, will verändern und progressive linke Politik machen. Doch kaum ist er in Berlin angekommen, wird er ausgebremst und diszipliniert. Von Parteitaktik und Fraktionszwang, von den ungeschriebenen Regeln. Kritiker der Großen Koalition während der Regierungsbildung 2017/2018, stimmt er im März 2018 gegen Angela Merkel. Seine Progressive Plattform verfolgt zwei Ziele: In einem linken Bündnis die SPD zu erneuern und gegen die soziale Ungleichheit in Deutschland anzugehen. 5.000 Menschen unterschrieben seinen Aufruf, rund die Hälfte SPD-Mitglieder, die andere Hälfte Mitglieder in anderen Parteien oder parteilos. Doch er scheitert. 2018 tritt er aus der SPD aus. In seinem Buch Lobbyland erzählt er seine Geschichte, von seinen Erlebnissen in der Politik und erklärt seine Sicht auf den deutschen Politikbetrieb. Da ich bisher nicht gehört habe, dass jemand gegen diese Aussagen geklagt hätte, ist unsere Demokratie wohl viel weniger von der AfD oder von Verschwörungserzählern bedroht, sondern eher durch das Treiben unter der großen gläsernen Kuppel am Platz der Republik 1.
Was Bülow aufzeigt, ist kein Problem der SPD. Es ist eine Entwicklung der letzten 30 Jahre, von einer Zeit, als sich noch 80 und mehr Prozent der Wahlberechtigten an der Bundestagswahl beteiligten. So war die Wahl 2021 mit 76% Beteiligung bei den Wahlen schon fast wieder ein Highlight. Jedoch dort, wo die Menschen am meisten von der Politik betroffen sind, in den Kommunen, gingen im Dortmunder Norden, Bülows Wahlkreis, nur ein Viertel der Leute zur Wahl. Die SPD, die dort immer gewinnt, hatte somit nur ein paar tausend Wähler der 40.000 Menschen in diesem Bezirk. Wie repräsentativ ist die Politik dann überhaupt noch? Gar nicht mehr, schreibt Bülow. Im Bundestag sind praktisch keine Menschen mehr zu finden, die nicht über einen Hochschulabschluss verfügen, die nicht elitären Berufsgruppen angehören wie Anwälte oder Beamte. Das Parlament repräsentiert die Bevölkerung schon lange nicht mehr. Erschwerend kommt hinzu, dass Parlamentarier eben nicht, wie das Grundgesetz es will, nur ihrem Gewissen verpflichtet sind. Fraktionszwänge, Karriereplanungen und Parteipositionen geben den Abgeordneten vor, was sie zu meinen haben. Was Bülow am meisten erschüttert hat, waren die unzähligen Terminanfragen von Lobbyvertretern, kaum dass er im Bundestag saß. Die Majorität der Lobbyisten, die mit Hausausweis im Bundestag ein und aus gehen, sind nicht die von gemeinnützigen Organisationen oder Bürgerbewegungen, sondern Erdöl- und Fossilindustrie, Rüstung, Autokonzerne. Die mit Unmengen an Geld in der Tasche eben nicht die Interessen der Bevölkerung vertreten, sondern die der großen Konzerne und vor allem der Finanzindustrie .
Die Lobbyisten sind ein Staat im Staat geworden, für Gemeinwohl stehen sie nie. Abgeordnete werden großzügig durch Spenden und Events unterstützt, vor allen Dingen werden sie entlastet, indem Anwälte und Agenturen gleich für sie die Gesetze schreiben, die die Industrie betreffen. Nach dem Ausstieg aus dem Bundestag, oder möglichst schon ein Jahr zuvor, gibt es dann ein heimeliges Plätzchen an den Honigtöpfen der Industrie. Zur Belohnung. Fazit ist, dass unser Parlament nichts weniger vertritt als die eigentliche Bevölkerung. Weder repräsentiert es sie, noch dient es ihren Zwecken und Bedürfnissen, noch interessieren die Parlamentarier die Wähler. Außer eben alle paar Jahre, wenn es gilt, sein Kreuzchen zu machen. Hätte man diese Dinge insgesamt nicht schon anderswo gelesen, könnte man nur erschüttert sein. Das Buch zeigt noch einmal deutlich, dass unsere Demokratie schon lange defekt ist, sich die Politik verselbstständigt hat, sich selbst versorgt und eventuelle Skandale als Einzelfälle abtut. Falls da mal jemand nicht aufpasst, wie Andreas Scheuer, Philipp Amthor oder die Profiteure der Maskenknappheit. Sie schreibt Gesetze für sich selbst, gibt sich ihre Regeln selbst, und sollte da mal tatsächlich ein Lobbyregister unvermeidbar sein, wird es bis zur Überflüssigkeit verwässert. Statt Parlamentarier sitzen im Deutschen Bundestag Lobbytarier, von wenigen Ausnahmen, wenigen Aufrechten, abgesehen.
Nun ist das insgesamt nichts wirklich Neues, was Bülow da schildert. Aber er fasst es in seinem Buch zusammen, was ein erschreckendes Bild ergibt. Zumal es von jemandem kommt, der schon lange in diesem Betrieb zuhause ist. Es ist auch nicht unplausibel, irgendwie hat man das alles schon lange geahnt. Da darf sich nun keiner beschweren, dass 10% der Wähler im Bund, ein Viertel in Sachsen, ihr Kreuz bei der AfD machen, ihr Vertrauen in die Politik restlos verloren haben, auf die Herrschaft der Eliten schimpfen und alle Politiker für Verbrecher halten. Es ist das Zeichen, dass diese Demokratie auf dem absteigenden Ast ist. Doch Bülow hat nicht nur Anklagen, sondern auch bessernde Vorschläge, die ein komplettes Kapitel füllen. Zurück zu wirklicher Repräsentation der Bevölkerung, Änderung der Wahlen zu wirklicher Beteiligung aller Betroffenen und mehr Einfluss und Steuerung durch Bürgerinnen und Bürger und und und. Sein Forderungskatalog klingt wie eine Utopie, doch folgt er nur dem Rat von Hermann Hesse: „Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.“ Lobbyland ist vielleicht kein literarisches Meisterwerk, aber ein heftiger Wecker, von unserer Demokratie zu retten, was noch zu retten ist. Nur eins hat mich erstaunt: Dass im ganzen Buch nirgendwo der Name Julia Klöckner auftaucht.
Der Klappentext:
Unser politisches System steht an einem Wendepunkt. Wahlen verkommen zum demokratischen Feigenblatt-Ritual für die Mittelschicht, und während Millionen für eine lebenswerte Zukunft auf die Straße gehen, herrscht im politischen Berlin business as usual: Durch Fraktionszwang geknebelte, von der Regierung in Geiselhaft genommene Parlamentarier, besser: Lobbytarier verfolgen weitestgehend eigene monetäre Interessen und bedienen die Wünsche der Profitlobby. Sobald die Karriere stockt, geht es ab in die Wirtschaft – man kennt sich ja. Dem stellt der Bundestagsabgeordnete für DIE PARTEI, Marco Bülow, ein anderes Modell gegenüber. Es umfasst Parlamentarier, die – wie es das Grundgesetz vorsieht – nur ihrem Gewissen gegenüber verantwortlich sind und sich an einem strengen Kodex für Transparenz halten, neue offene Parteien sowie Räte und Plattformen, in denen Bürger sich engagieren und bestimmen.
Martin Sonneborn sagt dazu: Wenn es in der SPD mehr Menschen wie Marco Bülow gäbe, hätten wir DIE PARTEI niemals gründen müssen.
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