Michael Wolffsohn: Eine andere jüdische Weltgeschichte

Gibt es „das“ Judentum? So wenig, wie es „den“ Islam oder „das“ Christentum gibt. Man denke nur an die lange Liste unterschiedlicher christlicher Richtungen von altkatholisch, römisch-katholisch und griechisch-orthodox bis zu evangelisch und reformiert-lutherisch. So gab es auch im Judentum unterschiedliche Strömungen und Richtungen, die nicht immer friedlich ausdiskutiert wurden. Und doch gibt es einen Unterschied zwischen Muslimen, Christen und Juden. Also zwischen den drei monotheistischen Weltreligionen. Nur die Juden wurden beinahe in ihrer ganzen Geschichte nicht nur als eine Religion betrachtet, sondern als eine Kultur, im großen Verlauf der Geschichte sogar als eine Rasse. Obwohl aktuell noch der letzte Dummbatz wissen sollte, dass es keine menschlichen Rassen gibt. So schließt sich dieses Buch beinahe an das zuletzt gelesene an. Ein Zufall, keine Absicht. Geschrieben hat es der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn, erschienen ist es schon 2022. Doch nicht immer ist ein Buch über Geschichte eine dröge Aufzählung von Daten und Fakten. Dieses Buch ist anders. Zwar ist der Kern eine historische Darstellung, doch sein Autor erlaubt es sich, auch seine persönlichen Kommentare und Interpretationen einzubringen. Natürlich optisch und layouttechnisch abgesetzt. Das hat den Vorteil, dass es deutlich lebendiger wird und auch Blicke hinter die historischen Kulissen möglich sind. Dann hätte das Buch noch beinahe in meine Kategorie „angefangen und abgebrochen“ Einzug gehalten. Doch wie schon bei anderen Büchern zuvor habe ich den Anfang mit langen Zähnen durchgehalten. Zum Glück.

DeutschlandfunkHistoriker Michael Wolffsohn im Gespräch

Es geht jedoch nicht nur um jüdische Weltgeschichte, sondern darum, was das Judentum historisch, sozial, kulturell und politisch ist. Dazu teilt er die Sache in drei Teile ein. Als erster Teil die Geschichte des Judentums im Orient. Wie das Judentum wahrscheinlich entstand, nicht am Ort, wo man es erwarten würde, sondern vermutlich in Mesopotamien. Wie es sich verbreitete und wie die Geschichte bis in die Gegenwart weiter ging. Interessant an dieser Stelle ist, dass es den Juden im Zusammenleben mit dem Islam im Orient oft besser ging als in Europa. Am besten in al-Andalus, also von 711 bis 1031 auf der iberischen Halbinsel in islamischer Hand, wo Judentum, Christentum und Islam vergleichsweise friedlich und in gegenseitiger Toleranz umgingen. In diesem ersten Drittel fällt es etwas schwer, geografische Regionen und Epochen im Überblick zu behalten. Auch weil Wolffsohn immer wieder springt, zeitlich und regional. Zudem konnte ich mit vielen Begriffen nicht viel anfangen, Wo genau Mesopotamien war, wie das große osmanische Reich aussah, wo war noch mal Byzanz. Ich blieb trotzdem bei der Stange. Teil Zwei ist der Rest der Welt, genauer die europäisch orientieren Gebiete der Erde. Das Judentum in Europa, Eurasien, den Amerikas und sogar Australien und Südafrika. Dieser Abschnitt wieder ist sehr faszinierend, zu sehen, wie unterschiedlich jüdisches Leben über die Jahrhunderte in den Niederlanden, Italien, Spanien, Polen, Ungarn, Russland/Sowjetunion oder sogar Australien war. Doch Wolffsohn belässt es nicht bei Geschichte an sich, sondern geht darauf ein, warum Jüdinnen und Juden tatsächlich eine eigene Kultur entwickelten. Nämlich durch Streben nach Bildung, Vorlieben für Wissenschaft und Kultur, bis heute stabile familiäre Bindungen und eine erstaunliche Bodenständigkeit. Dies rührte aus der Entstehung des Jüdischen her, weil im Vordergrund das Wort stand. Nicht umsonst waren Juden bis in die Mitte des 20. Jahrhundert zumeist Ärzte, Anwälte und Journalisten, Kopfarbeiter, nicht Körperarbeiter. Und sie hatten immer ein Händchen für Handel und Wandel. Zugleich erstaunlich divers, von den ultraorthodoxen Juden in Israel bis zu den säkularisierten, linksliberalen in den USA..

Der dritte Teil des Buches geht in die Details und in die Themen, die zumeist nicht so unbekannt sind. Essensregeln, Beschneidung, die wichtigsten Bücher wie hebräische Bibel, Tora und Talmud. Selbst die Kippa bekommt eine genauere Erläuterung, beim Sex gehen die Meinungen unter Juden genau so auseinander wie beim Rest der Menschheit. Woher diese Bräuche und Regeln stammen, und dass sie keineswegs unumstritten sind. Unvermeidbar am Ende die Fragen zum Nahost-Konflikt, ebenso wie das zukünftige Zusammenleben von Christen, Atheisten, Juden und besonders Muslimen zu gestalten wäre. Dieses Kapitel geht noch ein weiteres Mal auf die Fragen am Anfang zurück. Ob das Judentum eine Religion, eine Kultur oder eine Gemeinschaft ist. Wolffsohn ist sich des verminten Geländes wohl bewusst, wenn er den Geist der jüdischen Kultur auf dem Blut, nicht auf dem Boden beruhen lässt. Denn nur, wer eine jüdische Mutter hat, ist Jude. Die Folgerungen sind jedoch anders als bei der von den Nazis gepredigten Blut und Boden-Ideologie. Das Judentum ist eine Gemeinschaft, die durch Vererbung und Verbindung entsteht, nicht durch einen Staat, ein politisches Land oder eine geografische Region. Er macht also keinen Bogen um den Streit der Zionisten und ihrer Gegner.  Damit wird allmählich plausibel, warum Juden immer als eine Gesellschaft gesehen wurde, die anders war als die der Angehörigen einer Nation oder eines Staates. Das Judentum hat keine eigene Sprache, keinen Staat und immer nur Existenz auf Widerruf. Doch es hat einen uraltes Bekenntnis zum Wissen, Forschen, zur Wichtigkeit des Wortes statt profanen Handelns.

Alle drei Kapitel, Orient und Okzident plus Grundlagen und Zukunft des Judentums, machen ein aufschlussreiches wie sehr informatives Buch aus. Es ist keine historische Aufarbeitung, sondern eine andere Geschichte, wie schon der Titel ausdrückt. Es ist eine auch objektive Sicht von Michael Wolffsohn. Ein Brecher von Buch, das viel Aufmerksamkeit und Reflektieren erfordert, je weiter es voran geht.  Doch wenn man etwas über das Judentum erfahren möchte, ist das Buch allererste Wahl.

Michael Wolffsohn (geboren am 17. Mai 1947 in Tel Aviv, Palästina) ist ein deutscher Historiker und Publizist. Er lehrte von 1981 bis 2012 Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. […] Wolffsohn bezeichnet sich als „einen kosmopolitischen deutsch-jüdischen Patrioten“ und sieht sich in der Tradition der Emanzipation. Wiederholt unterstrich er, dass die Geschehnisse des Nationalsozialismus keine Gründe gäben, die auf Dauer die Integration des Judentums in die deutsche Nachkriegsgesellschaft belasten müssten; der Nationalsozialismus sei kein Einwand dagegen, dass Juden, zumindest seiner Generation, stolz auf Deutschland sein könnten. Diese Haltung ist besonders in seinem Buch «Keine Angst vor Deutschland!» beschrieben. Er wirbt für Verständnis für die israelische Position und stand der Friedenspolitik von Jitzhak Rabin nahe. Im Bereich der Sicherheitspolitik und in Bezug auf die Abwehr von Terrorgefahren hält Wolffsohn unter anderem Integrationsdefizite der westeuropäischen Gesellschaften für ein Hauptproblem. Wolffsohn wird oft als Konservativer bezeichnet. Er stieß wiederholt bei der politischen Linken auf Unverständnis, so etwa mit seiner Haltung zur Terrorbekämpfung der USA oder zu den israelisch-palästinensischen Beziehungen. Ausdrückliche Unterstützung erhalten Wolffsohns Ansichten bei diversen Konservativen und auch bei einigen Publizisten wie Henryk M. Broder und Josef Joffe, dem Mitherausgeber der Wochenzeitung «Die Zeit». […] Wolffsohn hat mehrere Bücher und zahlreiche Aufsätze zum Nahostkonflikt publiziert. Schon frühzeitig vertrat er die vergleichsweise wenig verbreitete These, dass der Staat Jordanien, dessen Bevölkerung mehrheitlich aus Palästinensern besteht und dessen heutiges Staatsgebiet zum damaligen Mandatsgebiet Palästina gehörte, Teil eines zu schaffenden Palästinenserstaates sein müsse und werde. Er bekräftigte die These im Jahr 2011, als er die Gründung einer Bundesrepublik Jordanien-Palästina vorschlug, und vertiefte diesen Ansatz einer föderalen Lösung aus Bundesstaat und Staatenbund in seinem Buch «Zum Weltfrieden» (2015).

Dieser Text basiert auf dem Artikel Michael Wolffsohn aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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