Detlef Pollack: Das unzufriedene Volk
Mal wieder ein Buch über Ossi-Bashing? In gewisser Weise ja, aber anders als zuerst gedacht. Immer wieder schön, wenn ein Buch sich in eine ganz andere Richtung aufmacht als erwartet. Detlef Pollack ist selbst in Ostdeutschland aufgewachsen, hatte jedoch das Privileg, ins kapitalistische Ausland reisen zu dürfen, schon vor 1989. Zwar war er gerade am 9. November 1989 nicht zuhause, sondern auf einem theologischen Seminar in Zürich, doch hat er lange Zeit die Vorgänge in der damaligen DDR verfolgt und begleitet. Wenn er nicht sogar ein Teil der Veränderungen war, als Student der evangelischen Theologie. Er ist demnach ein profunder Berichterstatter, was sowohl vor der Wiedervereinigung als auch danach geschah. Seine zweite Qualifikation ist sein soziologischer Hintergrund, der insbesondere im letzten großen Kapitel zum Tragen kommt. Hat er eine andere Sicht auf die als Jammer-Ossis und notorische AfD-Wähler im Westen gesehenen Bewohner der neuen Bundesländer? Ja und Nein, überraschender Weise. Sein Fazit ist eher, dass an den Vorwürfen etwas dran ist, aber eben anders als gedacht. Weil die Wessis die Ossis mal wieder nicht verstehen. Weil es eine Menge Fehlinterpretationen gibt. Und weil die Wessis, so wie ich, die ganze Geschichte nicht kennen.
Deshalb geht Pollack erst einmal zurück in die Zeit ab Spätsommer 1989. Als sich die ersten Bürgerbewegungen bildeten, unter dem Schutz der evangelischen Kirche der DDR. Sie gelten oft als Ausgangspunkt der weiteren Entwicklungen, die zum Mauerfall am 9. November und zur Wiedervereinigung führten. Pollacks Sicht der Geschichte ist eine andere. Der „Demokratische Aufbruch“ oder „Demokratie Jetzt“ waren keine Gruppen, die aus der breiten Bevölkerung entstanden, sie waren zum Teil nicht einmal in der DDR bekannt. Sie agierten und diskutierten unter sich, und ihr Ziel war die Liberalisierung und Demokratisierung des real existierenden Sozialismus. Nicht Umsturz, geschweige denn Wiedervereinigung. Und doch waren sie ein kleines Licht, das in die Dunkelheit ausstrahlte. Sie waren erst nur ein Funke, der sich zum nicht von ihnen so gedachten Flächenbrand ausbreitete. Erst ganz am Ende passierte das, was Europa verändern sollte, als sich nach den Friedensgebeten immer mehr Leute vor der Nikolaikirche zu ihnen gesellten. Aus den elitären Zirkeln der Bürgerbewegungen und ihnen entstanden die Montagsdemonstrationen, es wurden immer mehr Leute, die auf die Straßen gingen. Gemeinsam hatten sie ein Feindbild. Den einen aus politischen Gründen, den anderen wegen der schlechten Versorgungslage, den fehlenden Reisemöglichkeiten. Bis der Druck auf das Regime so groß wurde, dass es zusammen brach. Der politische und organisatorische Dilettantismus der SED wurde am besten sichtbar, als Günter Schabowski stammelnd vor der Presse und Erich Mielke dummes Zeug redend vor der Volkskammer standen. Mit der eher nicht vorgesehenen Maueröffnung hatte die Staatsführung der DDR verloren. Der Rest ist Geschichte. Bürgerbewegungen und Bevölkerungen trennten sich wieder. Erstere wollten weiter einen liberalen, demokratischen, sozialistischen Staat, letztere am Ende die Wiedervereinigung, die D-Mark und Reisefreiheit. Doch es kam anders. Als die Menschen feststellten, dass die Wirtschaft zusammen brach, ihre Arbeitsplätze verloren gingen und ein Viertel ihrer Familien, Freunde und Nachbarn sich auf den Weg in den Westen machten. Als ganze Landstriche verödeten.
Pollacks Geschichte über das Ende der DDR ist eine etwas andere als die, die in den Medien publiziert wurde. Sie ist detaillierter, basiert auf Protokollen, Tagebüchern und Nachrichten dieser Zeit. Sie zeigt verständlich, woher die Enttäuschung und die gefühlte Kränkung der Leute im Osten kommen. Sie sind nicht einmal unverständlich. So kam die Mär von den Jammer-Ossis auf, die in manchen Gegenden zu einem Viertel die rechtspopulistische AfD wählen. Doch solche Zahlen können täuschen. Deshalb geht Pollack im abschließenden Kapitel auf Zahlen und Statistiken der Sozialforschung ein. Die zeigen ein Bild, was diesen Stereotypen deutlich widerspricht. Nämlich, dass eine große Mehrheit der Menschen in den neuen Bundesländern schon sagt, dass es ihnen heute besser geht als vor 1989. Die hinter der Bundesrepublik stehen, hinter westlichen Werten und hinter der Demokratie. Er gibt gleichzeitig zu, dass es in Sachsen, Thüringen und Brandenburg schon immer eine Tendenz zum Jammern und Klagen gab. Doch das hat mehr mit der immer noch wirkenden Sozialisation in der DDR zu tun als mit einer tiefsitzenden Abneigung gegen die Wessis und den nun gemeinsamen Staat. Es hat etwas mit Mentalitäten zu tun, mit festsitzenden Ressentiment. Als wenn Rheinländer und Ostwestfalen, Bayern und Berliner einander besonders viel Empathie entgegen bringen würden. Stattdessen sollten die Ostdeutschen lieber mal darauf zurück blicken, was sie in diesen 30 Jahren geschaffen und geschafft haben, welche Leistung sie geliefert haben. Dann darauf ein neues Selbstbewusstsein und ein neues Selbstverständnis gründen.
Detlef Pollacks Geschichte und Interpretation der Zeit vor und nach dem 9. November 1989 ist für mich die plausibelste Version der Wendezeit, die ich bisher gelesen habe. Er greift auf viel persönliches Leben und Erleben zurück, belegt mit sehr vielen Quellen seine Geschichte. Tatsächlich ist mir so einiges klarer geworden, was bisher eher etwa nebulös daher kam. Vor allen Dingen hilft seine Geschichte, von simplen Zuschreibungen und Urteilen weg zu kommen. Pollack schafft ein stimmiges Bild, nicht nur der Geschichte, sondern auch der Menschen, die aus der DDR zur BRD gekommen sind. Pollacks Buch kann zu mehr Verständnis führen, zu einem genaueren Hinsehen und einem besseren Hören auf die Geschichten. Denn er spricht auch von den positiven Unterschieden, dass ehemalige DDR-Bürgerinnen und -Bürger nicht selten zurückhaltender, freundlicher und hilfsbereiter sind als Wessis. Was ich als oft in Sachsen herumreisender Westfale nur bestätigen kann. Weshalb ich mich auf die kommenden Tage im Erzgebirge schon jetzt freue.
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