Erik Schilling: Authentizität

Erik Schilling: Authentizität

Erik Schilling: Authentizität

Bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hatte der Begriff des Authentischen fast nur eine Bedeutung in Kunst und Wissenschaft. Ein Werk oder ein Dokument war authentisch, wenn es zuverlässig einem Erschaffer zuzuordnen war oder seine Herkunft und seine Rolle in der Zeit geklärt. Mit dem beginnenden 21. Jahrhundert fing man an, auch Menschen das Attribut authentisch zu geben. Was sagen sollte, dass jemand in seinem Handeln oder Sprechen seinem eigentlichen Wesen entsprach. Ein weiterer Megatrend nach Offenheit, Diskursfähigkeit oder Toleranz, auch, aber nicht nur im linksliberalen Spektrum. Der Literaturwissenschaftler Erik Schilling von der Ludwig-Maximilians-Universität in München hat ein Buch über die Authentizität geschrieben, über diesen positiven und wohlwollenden Begriff. Inzwischen treibt der Gebrauch des Wortes seltsame Blüten, Hersteller von Trekkingbekleidung bezeichnen ihre Hosen und T-Shirts als authentisch. Spätestens hier wird deutlich, dass mit dieser Vokabel irgendetwas nicht stimmt. Denn Bekleidung hat wohl kaum ein eigenes Wesen, das repräsentiert werden soll. Deshalb stellt Schilling fünf Thesen zur Authentizität auf und arbeitet sich in seinem Buch daran entlang. Am Ende wird klar, dass es sich bei der Authentizität genau so wie bei der Individualität oder der Identität, mit der Leute hausieren gehen, um eine Worthülse handelt. Ein Narrativ ohne Inhalt. Alle wollen authentisch sein, aber keiner kann sagen was das ist. Dabei zerlegt Schilling nicht nur dieses Unwort, sondern gleich noch den Zeitgeist dieser Tage.

Jemand, dem man Authentizität zubilligen würde, ist sicherlich Angela Merkel. Wenn das dann bedeutet, dass sie immer nach ihrem ihr eigenen Wesen handelt und spricht, stellt sich die Frage, welches denn nun die wirkliche Angela Merkel ist. Die dröge Physikerin in der Bundespressekonferenz, die Bundeskanzlerin in ihrer sehr persönlichen und ungewohnt offenen Rede vor den Absolventen der Universität Harvard, oder kennt nur ihr Ehemann Joachim Sauer die wahre Angela Merkel? Was ist mit einem Musiker namens Eminem, der als Weißer eine typisch schwarze Musik macht und sich allen Ernstes als Teil der von den Schwarzen selbst so gewählten nigga community bezeichnet? Je mehr man den Begriff der Authentizität versucht in den Griff zu bekommen, desto mehr zerlegt er sich selbst. Bis am Ende vom wahren Wesen, der Echtheit und Unverstelltheit gar nichts übrig bleibt. Schilling definiert Authentizität zuerst als Übereinstimmung von Erwartetem und Beobachtetem. Wenn das so ist, dann ist um so verblüffender, dass genau das Gegenteil davon auch wieder als authentisch anerkannt wird. Wenn jemand zum Beispiel allgemein gültige Normen und Werte in die Tonne tritt, weil es halt so zu seinem Wesen passt. Schon diese Beispiele machen deutlich, dass die Sache so simpel nicht ist. Tatsächlich zeigt Schilling, dass der heilige Gral dieser Zeit, nämlich die Authentizität, die jeder gerne haben möchte, am liebsten im 24-Stunden-Service von Amazon, nicht nur ein Phantom ist, sondern sogar ein Übel. Dass ganz andere Wesenszüge angebracht sind. Authentizität als Einbahnstraße und zugleich als Sackgasse.

Erik Schilling selbst bezeichnet sein Buch als Essay, nicht als wissenschaftliche Betrachtung. Das Cover mit dem Selfie des Schopfmakaken Naruto versucht geradezu den Ernst des Inhaltes abzumildern. Es ist auch kein wirklich ernstes Buch, dafür sorgen perfekt eingestreuter Humor, ein Schuss Ironie und eine gewisse Doppelbödigkeit. Doch Schilling gelingt mit Authentizität eine sehr interessante philosophische und soziologische Analyse des Zeit(un)geistes. Die sich nicht ganz so einfach lesen lässt, weil er detailliert und strikt argumentiert. Dabei bleibt Schilling fast immer in der ganz nahen Gegenwart und der alltäglichen Welt. Wie sein gern genutztes Beispiel des authentisch italienischen Restaurants, das von einem Türken betrieben wird. Gerade die aktuellen und historischen Bezüge erleichtern das Lesen und den Zugang zu seiner Argumentation. Er belässt es aber nicht bei der Kritik an unkritisch wiederholten Phrasen, sondern liefert am Ende drei Alternativen für die Unart der Authentizität. Die ich, wie er, für wichtig halte, weil sie greifbar sind, für die Gesellschaft einen realen Fortschritt bedeuten und das Leben für alle etwas leichter machen. Dabei macht es dann auch noch wirklich Spaß, seinen Weg dahin zu verfolgen. Kein einfaches Buch. Leider wieder für die Leute geschrieben, die es nicht lesen werden. Weil sie schon so authentisch sind.

 Authentizität ist das Schlagwort der Stunde, die Sehnsucht der Gegenwart. Politiker sollen authentisch auftreten. Romane erzählen ungefiltert vom wahren Leben. Und im Dasein des Individuums verspricht Authentizität unverfälschtes Glück. Aber was ist der Preis? Erik Schilling beschreibt glänzend und pointiert, wie sich der Authentizitätskult in unserer Gesellschaft entwickelt hat und wieso er umschlägt in einen Verlust von Pluralität, Toleranz und Freiheit. Das Streben nach Authentizität hat die Gegenwart erfasst. Wonach wir uns dabei sehnen, sind Wahrheit, Eindeutigkeit, Übersichtlichkeit und Kontrolle. Doch die Schattenseiten bleiben meistens unbemerkt. Wollen wir unsere Chefinnen und Minister wirklich unverstellt erleben – oder nicht lieber professionell? Wenn wir immerzu nach unserem ‹wahren Ich› suchen, wo bleibt dann die Lust an der Veränderung und den Ambivalenzen des Lebens? Und wem wollen wir die Deutungshoheit darüber geben, was ‹authentisch› deutsch sei? Erik Schilling geht dem Aufstieg des Authentizitätskults in Gesellschaft und Kultur nach und zeigt, dass seine Dominanz nicht nur zu langweiliger Kunst, laienhaften Politikern und unglücklichen Menschen führt, sondern auch zu Intoleranz und Spaltung. Indem er der Sehnsucht nach Authentizität auch philosophisch den Boden entzieht, plädiert er für ein freieres Verhältnis zu den Widersprüchen, mit denen die Welt und wir alle behaftet sind. (Klappentext C·H·Beck-Verlag)

1 Kommentar

Trackbacks & Pingbacks

  1. […] So verbindet er die Würde eines Menschen mit seiner Identität, ein Thema, das schon in einem vorherigen Buch Thema war. So schwierig und komplex diese Verbindung nun ist, wird es in diesem Buch insgesamt […]

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert