Peter Wensierski: Jena-Paradies
In den letzten Jahren habe ich viele Orte in Sachsen kennengelernt. Von Dresden und Leipzig bis zu Schneeberg, Lichtenstein, Oelsnitz, Augustusburg und viele andere. Nur eines war mir bisher unbekannt: wie das Leben in der DDR in den Achtziger Jahren aussah. Natürlich hatte man etwas über die Stasi gehört, über die Repressalien, über die persönliche Unfreiheit im real existierenden Sozialismus. Das kann sich mit diesem Buch ändern. Es erzählt die Geschichte des Matthias Domaschk, ein Jugendlicher wie aus heutiger Sicht wie tausende andere Youngsters auch. Mit vielen Flausen im Kopf, mit seinen eigenen Vorstellungen von Gesellschaft, Politik und Leben, die er mit seinen Eltern und deren Zeitgenossen kaum teilt. Schon gar nicht mit einer repressiven Staatsmacht, für die schon das Lesen vieler Bücher über Politik und Philosophie ein Verbrechen darstellt. Wo der Begriff des „Gedankenverbrechens“ die Utopien eines George Orwells wahr werden lässt. Doch eine Reise zu Freundinnen und Freunden nach Berlin, zu einem ungünstigen Zeitpunkt, tritt eine Lawine von Ereignissen los, die ihre Gewalt am Ende zur Katastrophe anwachsen lässt. Ein Buch wie ein Roman, das in Wirklichkeit eine Dokumentation ist. Und das uns Wessis begreifbar macht, was es hieß, in diesem Unrechtsstaat zu leben.
Matthias, genannt Matz, lebt und wohnt mit seinem Freundeskreis in Jena, in Verhältnissen, die denen im Westen nicht unähnlich sind. Es gibt Wohngemeinschaften, sie reisen nach Polen oder in die CSSR, diskutieren abends und nachts Stunden lang über Politik und Gesellschaft. Bauen Netzwerke in andere Orte der DDR. Hegen hier und dort Sympathie für linksradikale Gruppen im Westen oder die neue Gewerkschaft in Polen. Argwöhnisch beobachtet durch die Staatsmacht in Form von Stasi und Volkspolizei. Schon die Proteste gegen die Ausweisung Wolf Biermanns verschärfen die Situation. Es gibt erste Festnahmen und langwierige Verhöre, einige Leute werden ausgewiesen in den Westen. Die Geschichte eskaliert am Freitag, den 10. April 1981, als sich Matz mit Freund Blase auf den Weg nach Berlin macht. Um dort Geburtstage zu feiern. Leider beginnt zu diesem Zeitpunkt aber auch der X. Parteitag der SED in Ost-Berlin. Stasi und Partei vermuten, dass Matz und Anhang nach Berlin reisen, um dort Randale zu machen. Doch die Staatsmacht bekommt die Abreise erst mit, als Matz und Blase schon im Zug nach Berlin sitzen. Sie werden von der Transportpolizei abgefangen, nach Gera gebracht, zusammen mit zwei Mädchen, die mit der Geschichte überhaupt nichts zu tun haben und Matz nur gegrüßt haben. Wegen der paranoiden und realitätsfernen Denkweise der Stasi in Gera, Jena und in anderen Orten nimmt das Unglück seinen Lauf. Am Ende, kurz vor seiner Freilassung und Rückkehr nach Jena, ist Matz tot.
Peter Wensierski hat das Leben und die Geschichte des Matthias Domaschk bis in kleinste Details recherchiert. Wie Matz aufwuchs, wer seine vielen Freundinnen und Freunde waren, seine Lebensgeschichte bis zu diesem verhängnisvollen Wochenende in 1981. Seine politischen Vorstellungen, seine Interessen und auch seine Stärken und Schwächen. So entsteht nicht nur ein sehr differenziertes Bild von Matz, sondern auch von der Zeit in der DDR in diesen Tagen. Jemand hat mal konstatiert, ein wichtiger Unterschied zwischen DDR und BRD sei gewesen, dass es im Osten kein 1968 gegeben habe. Diese Sicht widerlegt Wensierski, auch in der DDR hat es eine Jugend gegeben, die anders leben wollte als die Altvorderen. Mit anderen politischen Formen, mit persönlicher Freiheit und einer eigenen Kultur. Mit Jazz, Beatmusik und Literatur wie im Westen. Je mehr der Staat versuchte, diese Tendenzen zu unterdrücken, desto mächtiger wurden die Vorstellungen dieser anderen Generation. Die sich nicht ständig anpassen wollte, nicht dauernd lügen und verheimlichen, der eine Datsche und ein Trabbi nicht genug Leben waren. Doch ist Wensierskis Buch eben keine Fiktion, kein Roman, er dokumentiert die Entwicklungen und Verhältnisse in der DDR bis in kleinste Einzelheiten.
Das ständige Wechseln der Erzählebenen, der verschiedenen Zeiten in Matz‘ Leben, seine Lebensgeschichte in vielen Aspekten macht das Buch zu einem Leseerlebnis. Manchmal fühlt man sich fast in die DDR zurück versetzt, die man so als Wessi ja nicht selbst erleben konnte und musste. Da entstehen Bilder im Kopf. Zugleich geht Wensierski auf eine ganze Reihe historischer und politischer Einzelheiten ein. Er macht, im Rahmen der Möglichkeiten, die DDR erlebbar. Das Buch endet auch nicht mit dem Tod des Matthias Domaschk, Wensierski geht noch auf die folgende Zeit ein, positioniert Matz in der Geschichte der DDR. Schildert die Geschehnisse in Jena und herum, den zunehmenden Widerstand aus der Jugend und von Intellektuellen. So sind Jena und die Geschichte des Matz, und was sein Tod auslöste, ein Puzzlestein dessen, was dann im November 1989 geschah. Wenn man als westlicher Beobachter etwas wirklich von der DDR spüren und verstehen will, kommt man um dieses Buch nicht herum.
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