Annette Kehnel: Wir konnten auch anders

Unsere Vorstellung vom Leben im Hoch- bis Spätmittelalter, die Zeit von ca. 1000 bis 1600 n. Chr.,  ist eher die eines erbärmlichen, ärmlichen Lebens. Menschen, die in Dreck und Unrat hausen, in einer grausamen und ungerechten Welt, geschlagen mit Krankheiten und frühem Tod, Folter und Hexenverfolgung. Leider von der Realität weit entfernt.  Das liegt zum großen Teil daran, dass sich Historiker eher mit Kriegen, dem Adel oder großen politischen Ereignissen beschäftigten als mit dem profanen Alltagsleben in dieser Zeit. Mit dem Studium alter Aufzeichnungen wie Gerichtsakten und Büchern früher Volksbanken, wie die Monti Pieta in Italien,  ließen sich keine großen Lorbeeren verdienen. Das hat sich in jüngster Zeit zum Glück geändert. Was erstaunliche Erkenntnisse zu Tage förderte. Es war eben kein finsteres Mittelalter, es gab Menschen, die in Armut lebten, hungerten und im Winter beinahe erfroren. Das war aber eher eine Ausnahme, nicht die Regel, viele Menschen im Mittelalter waren gesund, gut ernährt und lebten relativ komfortabel. Dabei wäre die Art und Weise, wie in der Zeit des Mittelalters gewirtschaftet wurde, wie frühe Wirtschaft und Gesellschaft überhaupt funktionierten, in unseren krisengeschüttelten Zeiten wieder mehr Aufmerksamkeit würdig. In ihrem Buch „Wir konnten auch anders“ nimmt Annette Kehnel den Leser mit zurück ins Mittelalter, in die Vormoderne. Zeigt, dass wir gerade heute wieder von dieser Zeit lernen könnten, neue Wege zu finden, zu wirklicher Nachhaltigkeit zu kommen. Niemandem soll das Smartphone weggenommen werden, oder mit der Pferdekutsche zum Einkaufen fahren. Die Message sind Denk- und Handlungsweisen, die uns mit der ach so tollen Moderne verloren gegangen sind. Die Altvorderen haben anders gedacht. Und gehandelt.

Annette KehnelWir konnten auch anders

Die Diskussion, ob das Leben im Mittelalter besser oder schlechter war als heute, ist müßig. Das Leben war anders, so anders, dass wir es mit unseren heutigen Vorstellungen und Gewohnheiten kaum noch verstehen. Eines jedoch stand sehr lange Zeit im Vordergrund, nämlich die Nachhaltigkeit. Hunderte Generationen vor uns konnten es sich nicht leisten Rohstoffe zu verschwenden, Dinge zu entsorgen, die noch irgendwie zu gebrauchen waren. Aus Knochen verzehrter Tiere wurden Werkzeuge oder Musikinstrumente, kaputte Werkzeuge wieder eingeschmolzen oder anders verwendet, selbst nach dem zweiten Weltkrieg, als aus Soldatenhelmen Nudelsiebe oder Töpfe wurden. Erst in den Achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann die Wegwerfgesellschaft. Reparierberufe wie Fernsehtechniker, Schuster oder Schneider sind so gut wie ausgestorben. Wie wichtig dagegen nachhaltiges Denken und Handeln im Mittelalter war, ist das zentrale Thema des Buches. Nicht nur hinsichtlich des Wirtschaftens, sondern auch beim Wohnen und im sozialen Leben. Nachhaltigkeit in jeder Hinsicht war zwingend notwendig, keine tolle Idee wie heute.

Ein Beispiel ist die Befischung des Bodensees, in dem die unklaren Grenzen dreier Länder zusammen kamen. In jedem Jahr legte eine Art Kommission der Fischer fest, wie viel Fisch in welcher Größe gefangen werden durfte, je nach Ernährungslage und Fischbestand. Nicht wegen des Umweltschutzes oder der Nachhaltigkeit, diese Begriffe gab es noch nicht. Den Fischern war klar, dass sie mit Überfischung des Sees ihre eigene Lebensgrundlage zerstören würden. Wer sich nicht an diese Vorgaben hielt, wurde aus der Zunft ausgeschlossen und hart bestraft.  Ein weiteres Beispiel sind die florierenden Secondhand-Märkte und viele Berufe, die sich nur darum drehten, die nicht mehr brauchbaren Güter wiederzuverwenden. Recycling war im Mittelalter Standard, weil eben Rohstoffe begrenzt, teuer oder beides waren. Neben der rein materiellen Nachhaltigkeit war sie in noch anderer Hinsicht prägend und unverzichtbare Lebensgrundlage, im Verbund mit einem anderen sozialen Bewusstsein.

Lange Zeit bestimmte die Religion Überzeugungen und Handlungsweisen der Menschen. Gier, Habsucht und Neid waren Todsünden, noch drohte das Fegefeuer. Ein guter Grund für die Wohlhabenden, schon zu Lebzeiten an das Gemeinwohl und so an die Verkürzung des Fegefeuers zu denken, Arme und Alte zu unterstützen und zu versorgen. So entstanden im 13. Jahrhundert die Beginenhöfe in den Niederlanden und in Belgien. Wohlhabende Bürger spendeten oder stifteten Land und Wohnraum für alleinstehende Frauen und ihre Kinder. Mit der Zeit wurden diese zuerst abgeschlossenen Anlagen zu wirtschaftlichen Zentren der Kommunen, diese Frauen waren oft selbstständig und sorgten für einen großen Teil der Dinge des täglichen Lebens. Ein ähnliches Projekt ist die Fuggerei in Augsburg, 1521 von Jakob Fugger „dem Reichen“ gestiftet. Am Anfang einige wenige, später immer mehr weitgehend normierte Häuser mit wenigen Wohneinheiten, aber auch Werkstätten. Gedacht für Menschen, die unverschuldet in Not gekommen waren, gründeten diese oft neue Start-Ups, für eine Rückkehr in das bürgerliche Leben. Gegründet als Stiftung, gibt es die Fuggerei bis heute. Mit der Reformation entfiel das Fegefeuer, die soziale Motivation nicht.

Zum Ende hin geht Kehnel auf wirtschaftliche Fragen ein. Einen Schwerpunkt bilden die Klöster, nicht nur wirtschaftliche, sondern auch kulturelle und wissenschaftliche Zentren im Mittelalter. Während die Mönche und Nonnen nichts besaßen, durften die Klöster Land- und Grundbesitz haben, Gewinne erwirtschaften. Eine frühe Form des Co-Workings mit Bäckerei und Winzerei, Werkstätten und Bibliotheken. Universitäten wurden gerade von Klöstern gegründet und unterstützt. Eine Seitenlinie davon sind die Bettelorden. Zwar durften diese Mönche noch die Orden irgendetwas besitzen, was sie aber genau zu dem machte, was man heute Kosmopoliten und Coaches nennt. Die Franziskaner gründeten Stützpunkte vom Mittelmeer bis nach Nord-Norwegen, reisten sogar schon bis nach Asien. Sie waren ja nicht an Familie oder Besitz gebunden. Obwohl Franziskaner nichts besitzen durften, wurden sie die Fachleute für die Wirtschafts- und Finanzmärkte, entwickelten schon früh Wirtschaftstheorien, die wir für ganz modern halten. Petrus Johannes Olivi war einer von ihnen, er erfand die doppelte Buchführung und legte die philosophischen Grundlagen für unsere heutige Ökonomie.

So geht das Buch in viele noch unvertraute Details des Mittelalters hinein, im Zentrum steht jedoch immer das Thema Nachhaltigkeit. Materiell, kulturell und sozial. Daraus leitet Annette Kehnel möglich Leitlinien ab, wie wir aus diesen Erkenntnissen Strategien zur Bewältigung unserer aktuellen Krisen gewinnen können. Und das sehr plausibel. Nicht nur ein Buch für Leute, die sich mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigen. Mit ihrer locker flockigen Erzählweise, mal anekdotisch, mal biografisch wie bei Franziskus von Assisi, liefert Annette Kehnel auch reichlich Lesespaß für Urlaub und Nachttisch.

Annette Kehnel (* 20. November 1963) ist eine deutsche Historikerin. Annette Kehnel studierte von 1984 bis 1990 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Somerville College Oxford und an der Ludwig-Maximilians-Universität München die Fächer Geschichte und Biologie. Sie wurde im Mai 1995 am Trinity College Dublin bei Mary Katharine Simms mit der Arbeit Clonmacnois – the Church and Lands of St. Ciarán. Change and Continuity in an Irish Monastic Foundation promoviert. Ihre Habilitation erfolgte 2004 an der TU Dresden mit einer Arbeit über die Franziskaner auf den Britischen Inseln von 13. bis zum 16. Jahrhundert. Im selben Jahr folgte in Dresden eine Lehrstuhlvertretung für Gert Melville in Mittelalterlicher Geschichte. Seit Oktober 2005 ist sie Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim. Von 2011 bis 2013 war Kehnel Dekanin der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die Historische Anthropologie, Politik-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte sowie die Vergleichende Ordensforschung. Mit ihrer Dissertation legte sie die erste Darstellung eines irischen Klosters im Mittelalter überhaupt vor. Ihr Werk Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit wurde 2021 mit dem NDR Sachbuchpreis ausgezeichnet.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Annette Kehnel aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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