Michael Wildt: Die zerborstene Zeit

Dass man Geschichte durchaus interessant, sogar spannend und unterhaltend darstellen kann, hatten schon Bücher wie «Acht Tage im Mai» oder «Februar 33» bewiesen. Nicht ohne Grund bezieht sich Michael Wildt in seinem Vorwort auf «Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts» vom Historiker und Erzähler Golo Mann, immer noch ein Highlight der historischen Literatur. Nicht als Vergleich, sondern um eine neue, oder weitere Art der Darstellung der unruhigen und unrühmlichen Zeit in diesem unserem Lande zu eröffnen. Vergleichen kann sich Wildt mit Mann allerdings in einem Fall, nämlich was den Umfang des Buches angeht. Ein ziemlich heftiges Bündel Papier, was der Preis bei der BPB gar nicht vermuten lässt. Mit solchen Schinken tue ich mich immer zuerst etwas schwer. Weil sie doch eine lange Konzentration abverlangen und den Weg zu weiteren Büchern eine Zeit lang blockieren. So musste ich einen ordentlichen Anlauf nehmen, bevor ich die ersten Seiten aufschlug. Schon im Vorwort kündigt Wildt jedoch an, ein anderes Herangehen an die Erzählung der Geschichte wählen zu wollen als andere Autoren. Vereinfacht gesagt, einmal eher gröber, andererseits detaillierter. Und in der Tat entpuppt sich Wildts Art der Annäherung an diese vielschichtige und spannende Zeit als hervorragendes Rezept. So dass das Buch gerne immer wieder nach leider notwendigen Pausen in die Hand genommen wird. Um beim Begriff Rezept zu bleiben: es mundet ausgesprochen gut.

Michael WildtDie zerborstene Zeit

Ein so dickes Buch über eine so scheinbar überschaubare Zeit hat einen Grund. Weil sie nämlich in Wirklichkeit nicht im Geringsten überschaubar ist. Man erinnere sich, was alles in diese Zeit passte, Kriegsende, November-Revolution, Weimarer Republik, Machtergreifung der Nazis, Zweiter Weltkrieg, der Holocaust. Doch da war noch viel mehr, die Goldenen Zwanziger, die Zeit der jüdischen Emanzipation, nach dem Ersten Weltkrieg der Weg aus der Monarchie in die Republik. Das Versagen der politischen Parteien, das Gezänk im Völkerbund, die in die Irre führende Appeasement-Politik Frankreichs und Großbritanniens gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland. Wildt nähert sich diesem auf den zweiten und dritten Blick überbordendem Themenkatalog auf eine clevere Weise. Er macht Hotspots auf, konzentriert sich auf Jahre, die für den Verlauf der Geschichte entscheidend waren. Jahre, in denen Weichen gestellt wurden. Doch Wildt macht noch etwas anders. Neben den historischen Daten und Fakten flechtet er die Tagebücher von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen ein. Menschen, die in Süddeutschland, Hamburg und in Dresden wohnten, die Christen, Juden oder Halbjuden waren, lässt die Ereignisse noch einmal aus ihren Aufzeichnungen lebendig werden. Doch nicht nur so bekommt seine Erzählung dieser Zeit ihren Reiz.

Zwar steht Historisches und Politisches im Vordergrund, doch eben nicht nur. Der Blick geht auch tiefer, in das gesellschaftliche, private und kulturelle Leben, gerade ab 1933. Wie das Leben der People of Color, die es schon damals gerade in den Großstädten gab. Über die Besuche und Auftritte der Josephine Baker und ihre Wahrnehmung in der deutschen Bevölkerung. Was Samuel Beckett auf seiner Reise durch Deutschland erlebte und wahrnahm. Wie die Olympischen Spiele in 1936 für wenige Wochen das mörderische und rassistische Regime verdeckten. Zeitgenossen kommen zu Wort, deren Namen mir noch gut vertraut sind. Wie Hans Rosenthal, der Rundfunk-Moderator, oder der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Was sie erlebten und wie sie es erlebten in dieser Zeit. Wie sie Deutschland verließen und auf welchen Wegen. Bei Wildt steht also schon die Historie im Fokus, aber eben wie sie Menschen geschah und mit welchen Erfahrungen. Dabei kommen durchaus Irrungen und Wirrungen ans Licht, wie die Tagebuchschreiberin Luise Solmitz. Zuerst begeistert über den Sieg Hitlers in den Wahlen von 1933, später betroffen wegen ihres halbjüdischen Ehemannes, am Ende erschüttert über die ausgebombten deutschen Städte und die Behandlung ihrer jüdischen Mitbürger. Und natürlich bekommt gerade der Massenmord an den Jüdinnen und Juden besonderes Gewicht.

Michael Wildts Buch ist also sowohl eine historische Betrachtung, gerade an den entscheidenden Wendungen, als auch eine Sammlungen von Erlebnissen, Eindrücken und Wertungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Gerade so werden die Entwicklungen in der deutschen Geschichte, die aus heutiger Sicht schwer zu verstehen sind, genauer beleuchtet. Wildt legt mehr Wert auf Details und Zusammenhänge als auf eine lückenlose Wiedergabe der  Geschehnisse. Speziell für die Zeit seit den Zwanzigern bis zum Ende des zweiten Weltkrieges begleiten quasi diese Menschen den Leser durch den Verlauf des Buches. So schwer ich mich am Anfang mit dem schieren Umfang des Buches tat, um so faszinierender fand ich die Art, auf Geschichte zurück zu blicken und neue Blickwinkel geboten zu bekommen. Am Ende fast ein wenig traurig, die Geschichte nicht aus Wildts Blickwinkel noch ein paar Jährchen weiter verfolgen zu können.

Michael Wildt (* 13. April 1954 in Essen) ist ein deutscher Historiker. Er ist Professor an der Humboldt-Universität in Berlin. […] Der Forschungsbereich von Michael Wildt liegt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts mit den Schwerpunkten Nationalsozialismus und Antisemitismus, den Ordnungskonzepten und Weltanschauungen. Seine Studie über das Führerkorps des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) wurde 2002 unter dem Titel Generation des Unbedingten publiziert. Darin beschreibt er unter den Gesichtspunkten „Generation“, „Institution“ und „Krieg“ die intellektuelle Elite aus Reinhard Heydrichs „kämpfender Verwaltung“. […] Das nächste Projekt Wildts befasste sich mit der Volksgemeinschaftsideologie und dem Antisemitismus mit einem Schwerpunkt zur Gewalt gegen Juden in Deutschland zwischen 1930 und 1939. Es untersuchte die Transformation einer bürgerlichen Gesellschaft, die Herstellung der Volksgemeinschaft durch die Praxis der Gewalt. Hierbei stützte Wildt sich auf Berichte der lokalen Stellen des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (1893–1935), die Erinnerungsberichte deutscher Juden, auf Zeitungsberichte sowie auf Gestapo-Unterlagen. Das Projekt mündete in die Monografie Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung, die 2007 erschien. Wildts laufendes, auf drei Jahre angesetztes, Forschungsprojekt untersucht die so genannten „Ethnischen Säuberungen“. Er untersucht die gewalttätigen Konflikte in Europa darauf, wo und in welcher Form sich ethnische Morde und Vertreibungen auffinden lassen. Dabei steht die Frage im Zentrum, wie ein „biopolitisches“ Konzept des „Volkes“ zur politischen Dominante im Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde. Von 2013 bis 2021 war Wildt Vorsitzender der Historischen Kommission zu Berlin e. V. Er ist Kuratoriumsmitglied der Stiftung Ernst-Reuter-Archiv. Für 2022 wurde ihm der Preis des Historischen Kollegs zugesprochen.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Michael Wildt aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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