Ian Kershaw: Der Mensch und die Macht

Ian Kershaw ist nicht nur ein bekannter Historiker, speziell für das 20. Jahrhundert in Deutschland, sondern auch ein fleißiger Autor. Dieses Buch stammt aus 2022, schon davor gab es von ihm neun bzw. zehn Bücher speziell über die NS-Herrschaft. Hier widmet er sich nicht allein der deutschen, sondern der europäischen Geschichte. Die Eingangsfrage ist, wie weit das Wirken und die Hinterlassenschaft von Politikern, im weitesten Sinne Führern, ihrer Persönlichkeit, ihrem Charakter oder den jeweiligen Bedingungen ihrer Zeit geschuldet sind. Das Maskulinum trifft es fast ausschließlich, denn von den zwölf dargestellten Personen sind elf Männer. Was den Gegebenheiten im 20. Jahrhundert entspricht. Kershaw betrachtet unter diesen Gesichtspunkten sowohl Demokraten wie Adenauer, Thatcher, Kohl oder Churchill, als auch Diktatoren wie Lenin, Stalin, Franco und Tito. Dass Adolf Hitler da nicht fehlen darf, versteht sich gerade mit Kershaws Spezialgebiet von selbst. Solche Beschäftigungen mit der Vergangenheit mögen etwas wissenschaftlich und hypothetisch daher kommen, doch geht es Kershaw nicht nur um das Verstehen, wie und warum bestimmte Menschen in bestimmten Situationen an die Macht kamen. Denn er stellt an den Anfang eine Reihe von Fragen, was wann warum eine so große Rolle gespielt hat, und in wie weit solche Entwicklungen auch für die Zukunft eine Rolle spielen könnten. Zum Schluss kommen die Antworten als Lehren der Vergangenheit. Bezogen auf die Gegenwart in Deutschland sind die Schlüsse eher beruhigend. Und das liegt an den aktuellen Protagonisten selbst als auch an der Ferne einer ernsthaften deutschen Krise.

Ian KershawDer Mensch und die Macht

Die Struktur der Betrachtungen ist jeweils nahezu identisch: Wie sahen Persönlichkeit und Charakter aus, wie und warum kam die Person an die Macht, was waren die geschichtlichen Nebenbedingungen, was resultierte daraus und was wurde hinterlassen. Gerade diese Einheitlichkeit der Kapitel erleichtert die Analyse der Personen und macht das Buch mit seinen fast 600 Seiten besonders lesbar. Was Kershaw hervorragend schafft, ist die Konzentration auf die wesentlichen Punkte im Sinne seiner Betrachtung. Wer noch nicht viel über Francisco Franco oder Josip Broz Tito und die damaligen Vorgänge in Spanien und Jugoslawien wusste, bekommt so eine konzentrierte und verständliche Einführung zum jeweiligen Thema. Interessant ist Kershaws Blick auch deshalb, weil er der Persönlichkeit, dem Charakter und dem Selbstverständnis der Person viel Raum gibt. Dadurch verkommt das Buch nicht zu einer drögen geschichtlichen Betrachtung. Ebenso die Nebenbedingungen, Krisen, Kriege und Notlagen hatten viel damit zu tun, dass demokratischen Politikern die alleinige Führung anvertraut wurde, oder Diktatoren die Macht ergriffen. Der Verlauf der Karrieren ist immer auch mit einer Vorgeschichte verbunden, wie dem ersten oder zweiten Weltkrieg, in Frankreich der Algerienkrieg oder auf dem Balkan der Partisanenkrieg der Serben, Kroaten und Slowenen. Das ist schon ziemlich genial, wie Kershaw alle Fakten zusammen fasst, ohne dass dafür weitschweifiges Ausholen notwendig wäre. Weshalb sich dieses Buch, trotz seines Umfangs, so locker und spannend liest.

Im Schlusskapitel fasst Kershaw seine Erkenntnisse zusammen, die nicht wirklich überraschen. Ein Adolf Hitler als Reichskanzler wäre ohne die Instabilität der Weimarer Republik und die Demütigungen des Versailler Vertrages nicht möglich gewesen. Ein Winston Churchill hatte im Grunde selbst eine Tendenz zum Autokraten, war jedoch durch den Parlamentarismus in Großbritannien sicher eingebunden. Nur die Persönlichkeit und Fähigkeit eines Titos ermöglichte den Bundesstaat Jugoslawien, der nach Titos Tod sehr schnell wieder zerfiel. Jeder Führer, oder „große“ Politiker, war immer ein Kind seiner Zeit, der Aufstieg war immer nur durch bestimmte politische oder soziale Lagen möglich. Dabei kommen auch interessante Widersprüche zum Vorschein, wie ein Michail Gorbatschow, der als Apparatschik begann, sich aber zum Sozialdemokraten wandelte. Helmut Kohl wäre ohne die Entwicklungen 1989/1990 wohl als mittelmäßiger Kanzler und Liebling der Karikaturisten in die Geschichte eingegangen. Die deutsche Wiedervereinigung, die ihn in den Geschichtsbüchern unsterblich macht, fiel ihm eher in den Schoß, herbei geführt hat er sie nicht. Wenn auch gut gemanagt. Einen weiteren Schluss führt Kershaw eher durch die Hintertür ein. Dass Populisten oder Rechtsextreme in Deutschland an die Macht kommen, ist so gut wie auszuschließen. Dazu fehlt es ihnen an Persönlichkeit und Charakter. Und an der passenden Systemkrise, auch wenn Querschläger und Neonazis diese dauernd herbei reden möchten. Ein spannendes und sehr informatives Buch, das aus der Vergangenheit viele Sichten auf die Gegenwart erlaubt.

Sir Ian Kershaw (* 29. April 1943 in Oldham, Lancashire) ist ein britischer Historiker, der durch seine Schriften zum Nationalsozialismus, besonders durch seine zweiteilige Biografie Adolf Hitlers, bekannt wurde. […] Kershaw gilt in Fachkreisen als Experte auf dem Gebiet der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Einem breiteren Publikum wurde er mit seiner zweiteiligen Hitler-Biografie bekannt, die 1998 und 2000 erschien. In ihr versucht Kershaw, Hitlers rätselhaften Erfolg beim Aufstieg und in seinem Herrschaftssystem vor allem als Ergebnis einer gesellschaftlichen Projektion zu beschreiben, deren „wichtigster Bestandteil der Führermythos“ gewesen sei. Sein 2008 erschienenes Werk «Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg» beschreibt zehn von Kershaw so genannte Schlüsselentscheidungen aus den 19 Monaten zwischen Mai 1940 und Dezember 1941. Jede dieser Entscheidungen, die von einer der damaligen Mächte Deutschland, Italien, Sowjetunion, Japan, Vereinigte Staaten und Großbritannien gefällt wurden, beruhte auf vorangegangenen Schlüsselentscheidungen. In diesen 19 Monaten seien entscheidende Weichenstellungen für die Weltgeschichte der zukünftigen Jahrzehnte getroffen worden. In seinem 2011 erschienenen Buch «Das Ende. Kampf bis in den Untergang» geht Kershaw der Frage nach, warum viele Deutsche Hitler „bis zum Ende“ folgten und nicht früher kapitulierten, sondern weiterkämpften, obwohl längst offensichtlich war, dass Deutschland den Krieg verlieren würde. Kershaw nennt vier Hauptgründe: Tugenden wie Pflichtgefühl und Ehre wurden von den Nationalsozialisten instrumentalisiert bzw. missbraucht, viele Menschen sahen keine Alternative, zudem fürchteten sie den Terror von SS und Gestapo (gegen Zivilisten und Soldaten, zum Beispiel gegen Deserteure) einerseits und die Rote Armee andererseits. […] Für seine Forschungen wurden Kershaw zahlreiche wissenschaftliche Ehrungen und Mitgliedschaften zugesprochen.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Ian Kerschw aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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