Sven Reichardt (Hrsg.): Die Misstrauensgemeinschaft der Querdenker

Ich habe eine Zeit lang darüber nachdenken müssen, ob ich zu diesem Buch etwas schreibe. Nicht weil es kein gutes Buch wäre, sondern weil ein Buch mit der Erwartungshaltung übereinstimmen sollte. Schon die Angabe, dass Sven Reichard Herausgeber, nicht Autor des Buches ist, weist darauf hin, dass es eine Sammlung von Artikeln ist. Genauer ist das Buch eine Zusammenfassung von Beiträgen, die sich auf die Querdenker-Demos am 3. und 4. Oktober 2020 am Bodensee und eben in Konstanz beziehen. Beobachtet, anhand von standardisierten Umfragen analysiert und in tiefen Details interpretiert von der Universität Konstanz. So ist das Buch ein Resultat der Zusammenarbeit von Kultur- und SozialwissenschaftlerInnen der Hochschule. Wenn aber unter solchen Vorbedingungen eine Schrift entsteht, muss man sich darüber klar sein, dass es sehr tief hinein geht, je weiter man im Buch vorstößt. Und so ist es auch, je später die Beiträge, desto feingliedriger werden die Themen. Es beginnt mit den offensichtlichen Wissensparallelwelten der Querdenker, geht weiter über die Konturen einer heterogenen Misstrauensgesellschaft, leistet einen Vergleich der Spanischen Grippe Anfang des 20. Jahrhunderts und der Covid 19-Pandemie in Sachsen bis hin zum Umgang der Protestieren in Habitus und Kommunikation. Wie und mit welchen Methoden digitale Fähigkeiten genutzt werden. Dass die Parolen und  Protestformen der Querdenker überwiegend eher Parodien der Realität sind, wird ebenso ausgiebig behandelt. Bliebe am Ende die Frage, ob das Buch überhaupt für Durchschnittsleser interessant ist. Wenn auch mit gewissen Einschränkungen: eindeutig ja.

 

Die ersten fünf Beiträge sind nämlich durchaus von allgemeinem Interesse, erst danach geht es in die Abgründe der Sozialwissenschaft. Zwar sind nicht verblüffend neue Erkenntnisse gewonnen worden, jedoch haben sich bisherige Annahmen und Sichtweisen bestätigt. Vorrangig die, dass die Grundlage der Wissenschafts- und Politikfeindlichkeit dieser Gruppe von Leuten ist, dass sie in einer immer komplexeren Welt die Übersicht verloren haben. Ebenso verloren haben sie die für sie vormals vorherrschende Deutungshoheit gesellschaftlicher und politischer Themen. Das ist, auch aus meiner persönlichen Sicht, die wesentliche Motivation der Querdenker, PEGIDisten und Rechtsesoteriker. Leute wie die Querdenker verstehen schlichtweg nicht mehr, was um sie herum vor sich geht. Weder die Globalisierung, noch die Digitalisierung, und schon gar nicht, dass Minderheiten heute ihre Ansprüche anmelden, wie Migranten, Schwule und Lesben oder Behinderte. Stattdessen werden eben diese Wissensparallelwelten konstruiert, in denen es einfache Antworten auf hochkomplizierte Fragen gibt. Wenn dann Bill Gates und George Soros angeblich diese Viren erfunden haben, um zusammen mit den Rothschilds und den Freimaurern die Weltherrschaft zu übernehmen. Indem den Leuten integrierte Schaltkreise per Impfung implantiert und mit 5G gesteuert werden. Parodien der Realität, erzählt von Leuten, die die Welt nicht mehr verstehen.

Doch auch eher neue Themen sind zu finden. Schaut man sich im Detail an, wie diese Gruppen im Netz kommunizieren, fällt zuerst eins auf: Wer in Telegram oder sozialen Medien in den entsprechenden Kanälen nach Diskussionen sucht, wird keine finden. Es wird nur geteilt und geliked. Obwohl es gerade die digitalen Medien waren, die diese Bewegungen so relevant haben werden lassen, ist bei einer genaueren Betrachtung die Kompetenz in der digitalen Welt bei Querdenkern als auch bei Rechtsesoterikern erstaunlich gering. Doch auch andere Fragen in diesem Zusammenhang werden aufgenommen, wie die, warum Querdenker, Esoteriker, Populisten und Reichsbürger zusammen durch die Straßen ziehen. Obwohl sie fast nichts gemeinsam haben. Es ist diese Misstrauensgemeinschaft, der Glaube an ein homogenes Volk und eine korrupte Elite, an geheime Kräfte und verborgene Zirkel, die sie bindet. Es ist keine Interessensgemeinschaft, es sind nur die gemeinsamen Verschwörungsmythen, der Zweifel an Politik und Medien, der diese Leute zusammen bringt.

So gesehen ist das Buch letzten Endes auch für Otto Normalleser, ohne großen sozialwissenschaftlichen Hintergrund, durchaus aufschlussreich und interessant. Zudem geht es nicht um Meinungen oder Interpretationen, sondern um die Ergebnisse ernsthafter wissenschaftlicher Studien. Trotzdem bestätigen die Wissenschaftler aus Konstanz Annahmen, die schon viele Autoren so geäußert haben. Es rückt ein Verstehen dieser Bewegungen etwas näher, auch wenn es endgültige Antworten schuldig bleibt. Mein Lieblingsspruch von Richard David Precht ist: Wir irren vorwärts. Und da ist das Buch schon ein ernst zu nehmender Beitrag.

Sven Reichardt (* 30. Juni 1967 in Bremen) ist ein deutscher Historiker. Er hat seit 2011 die Professur für Zeitgeschichte an der Universität Konstanz inne. Von 1988 bis 1995 studierte Reichardt Geschichtswissenschaft, Politologie, Psychologie und Italianistik an der Universität Hamburg und später an der Freien Universität Berlin. Von 1995 bis 2000 promovierte er über Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA an der Freien Universität Berlin. Er entwickelte einen explizit praxeologischen Faschismusbegriff. Die Doktorarbeit wurde in Fachkreisen sehr positiv aufgenommen; Stefan Breuer nannte die vergleichende Studie in der Neuen Zürcher Zeitung ein Meisterwerk, weil es ihr gelinge, den Faschismus als „politisches Phänomen sui generis“ zu betrachten. 2003 erhielt Reichardt den Publikumspreis für das „beste historische Buch“ im Jahr 2002 durch H-Soz-Kult. Von 2003 bis 2011 lehrte und forschte Reichardt als Juniorprofessor für Zeitgeschichte an der Universität Konstanz. Von 2007 bis 2011 war er Fellow des Zukunftskollegs der Universität Konstanz sowie von 2007 bis 2009 Mitglied in dessen Vorstand. Zusätzlich war er Redakteur der Fachzeitschrift Sozial.Geschichte (2003–2007), ist seit 2003 Mitherausgeber des Jahrbuchs Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, seit 2006 Mitherausgeber der Buchreihe Italien in der Moderne und seit 2009 Mitherausgeber der sozialhistorischen Fachzeitschrift Geschichte und Gesellschaft. 2011 wurde er auf den Lehrstuhl für Zeitgeschichte an die Universität Konstanz berufen. Reichardts Forschungsschwerpunkte sind die Sozial- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik, die Geschichte des europäischen Faschismus, Diktaturen im Vergleich, Geschichte der Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte des Konzepts Zivilgesellschaft sowie Theorien und Methoden in der Geschichtswissenschaft.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Sven Reichardt aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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  1. […] fragt, wie so unterschiedliche Interessenslagen da zusammen marschieren können. Das hatte schon Sven Reichardt getan, wenn auch mehr aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Doch kommt Pöhlmann nicht zu anderen […]

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