Christina Morina: Tausend Aufbrüche

Noch ein Buch über die deutsche Wiedervereinigung. Denn man kann dieser Geschichte eine Menge Perspektiven und Aspekte abgewinnen. Wahrscheinlich wird man nie zu einem Ende kommen. Auch Christina Morina stellt noch einmal eine andere Betrachtung an. Es geht nicht grundsätzlich um die Wiedervereinigung an sich, sondern um die unterschiedlichen Arten von Verständnis als Staatbürgerinnen und Staatsbürger, um Demokratie und Demokratieverständnis im Westen wie im Osten. Sowohl lange vor November 1989 als auch nach Oktober 1990. Eine wichtige Grundlage dazu bilden Briefe an den Bundespräsidenten, an Politiker, Minister und sogar die Bundestagspräsidentin. Auf der anderen Seite Zuschriften aus der DDR an die Leitung der SED, sogar an das Ministerium für Staatssicherheit, an Zeitungen und Rundfunk, im Osten wie im Westen. Letztere Schreiben wurden natürlich vor 1990 abgefangen und dienten zum Beweis der staatsfeindlichen Hetze, wie es in der DDR hieß. Briefe einerseits ab November 1989 zum Thema Wiedervereinigung, aber auch zur Frage zur Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands, die sich in 1991 stellte. Morina traut sich sogar noch an ein Thema, das in diesem Rahmen nicht fehlen darf: Kann man die Beliebtheit der AfD in den neuen Bundesländern auf ein solches unterschiedliches Demokratie- und Staatsverständnis zurückführen? Und hatte das auch etwas mit der Kanzlerschaft der Angela Merkel zu tun, der langjährigen ostdeutsch geprägten Kanzlerin? Und wo sind die tausend Aufbrüche geblieben, die in der DDR ab Sommer 1989 angegangen wurden? Da war doch noch etwas.

Christina MorinaTausend Aufbrüche

Auf der westlichen Seite nannte man es parlamentarische Demokratie, im Osten sozialistische Demokratie. Und doch waren es zwei unterschiedliche Ansätze. Während in der BRD Demokratie eher als ein Prozess betrachtet wurde, galt sie in der DDR als eine Art Versprechen, eine Zukunftsaussicht. Während es sich im Westen um Teilnahme und Mitwirkung drehte, war die Mitwirkung in der östlichen Demokratie ein Zwang. Andere Vorstellungen demokratischer Entwicklungen waren in der DDR weder erwünscht noch zugelassen. Erst mit den Veränderungen im Herbst 1989 ergaben sich in Leipzig und Ost-Berlin neue Ideen, wie sich die Menschen in der DDR Demokratie vorstellten. Ein schon vielfach dokumentiertes demokratisches Experiment, um die D-Mark oder freie Marktwirtschaft ging es zuerst gar nicht. Zwar um Reisefreiheit und Meinungsfreiheit, doch im Vordergrund standen eine weitgehend direkte Mitwirkung des Volkes an politischen Entscheidungen sowie eine basisdemokratische Republik. Doch es kam anders. Der Artikel 23 des Grundgesetzes wurde in Anspruch genommen. Doch anstatt nun eine neue Verfassung zu bilden, die allen Ansprüchen sowohl von ostdeutscher als auch westdeutscher Seite gerecht wurde, wurde die BRD quasi der DDR übergezogen. So trafen zwei ganz unterschiedliche Verständnisse von Demokratie aufeinander. Daraus wurde, nicht zu Unrecht, die Geschichte, dass der Westen den Osten einfach übernommen habe.

Die vielen gedachten Aufbrüche, die in der DDR ab den Achtzigern angedacht wurden, ob im „Neuen Forum“, am „Runden Tisch“ oder in den Bürgerrechtsbewegungen „Demokratie Jetzt“ und „Initiative Frieden und Menschenrechte“, verschwanden in den Schubladen. Christina Morina verortet an diesem Verschwinden eigener demokratischer Vorstellungen zum Ende der SED-DDR die Grundlagen der Enttäuschung und der mangelnden Demokratiezufriedenheit in den neuen Bundesländern. Bis dahin, dass viele Ostdeutsche nicht Berlin als Hauptstadt, sondern lieber Leipzig oder Weimar wollten. Nicht wenige Westdeutsche hätten lieber Bonn als Regierungssitz behalten, weil Bonn für europäische Integration stand, unbelastet durch die Vergangenheit. Diese Diskrepanzen, von wieder nicht realisierter direkter Demokratie, von keinem Grundgesetz für den neuen Staat auf Basis eines Volksentscheides, bis zu den folgenden wirtschaftlichen Verwüstungen im Osten, sind aus Sicht von Morina wichtige Verläufe und Konsequenzen. Die aber nicht einmal eine ostdeutsche Kanzlerin wirklich ernst nahm, obwohl sie es nach Interviews und Statements zu urteilen wohl schon sah. Was die ökonomische Entwicklung in der Wiedervereinigung und das Etablieren eines funktionierenden Rechtsstaates angeht, ist die Sache schon gut gelaufen. Doch was sonst schief lief, warum die Identifikation mit diesem neuen, wiedervereinigten Deutschland in Brandenburg, Thüringen und Sachsen so schwer fällt, das arbeitet Christina Morina in ihrem Buch sehr anschaulich und detailliert heraus. Also nicht noch ein Buch, sondern auch ein Buch über die deutsche Wiedervereinigung.

Christina Morina (* 8. Januar 1976 in Frankfurt (Oder)) ist eine deutsche Historikerin und Hochschullehrerin an der Universität Bielefeld. […] Seit dem Wintersemester 2019 ist Morina Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld. Sie ist Mitherausgeberin der Historischen Zeitschrift sowie der Reihe Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und Mitglied der Wissenschaftlichen Beiräte u. a. des German Historical Institute Washington, des NIOD Amsterdam und der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Im November 2020 fand die erste der von ihr ins Leben gerufenen Bielefelder Debatten zur Zeitgeschichte zum Thema „30 Jahre Deutsche Einheit“ statt. Morinas Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte und Nachgeschichte des Zweiten Weltkriegs, die Rolle von „Bystandern“ im Holocaust, Fragen des kollektiven Gedächtnisses und der Geschichtspolitik, die politische Kulturgeschichte des geteilten Deutschlands, DDR- bzw. ostdeutsche Geschichte seit 1989, der Aufstieg des Rechtspopulismus sowie die Historiografiegeschichte. Morina äußert sich regelmäßig in der Öffentlichkeit zu zeithistorischen Fragen und Kontroversen. Im August 2018 fand ihr Aufruf gegen die Auflösung der Historischen Kommission der SPD durch die Vorsitzende Andrea Nahles eine überraschend breite Unterstützung durch über 1100 (Abschluss am 7. September 2018) Historiker und Interessierte. Als Reaktion auf den Aufruf gründete die SPD 2019 das „Geschichtsforum“, in dem Morina bis 2020 mitgewirkt hat; sie ist kein SPD-Mitglied. Als Reaktion auf die Black-Lives-Matter-Proteste veröffentlichte sie im September 2020 gemeinsam mit Norbert Frei einen kritischen Essay zum Verhältnis von Rassismus und Geschichtswissenschaft.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Christina Morina aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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