Volker Berghahn: Englands Brexit und Abschied von der Welt
Als zutiefst anglophiler Zeitgenosse, der seit den Neunzigern in Großbritannien gearbeitet und auch sonst viel Zeit dort verbracht hat, wurde ich oft gebeten zu erklären, warum sich denn die Briten aus der EU verabschiedet haben. Ich konnte es nicht. So wenig wie die mir dort bekannten Leute, die allesamt der Meinung waren, ihre Landsleute wären von allen guten Geistern verlassen. Ich lebe halt auch in einer Bubble. Sehr genau dagegen erinnere ich mich an den 24. Juni 2016, als ich morgens noch vor dem Frühstück – natürlich mit Rührei, Toast mit Orangenmarmelade und viel tiefschwarzem Breakfast Tea – im schönen Örtchen Grasmere im nordenglischen Lake District um acht das Radio einschaltete und in der BBC das Ergebnis des Referendums hörte. Schon damals verstand ich es nicht. Da war ich jedoch nicht der Einzige. Nicht einmal profunde Historiker können es erklären.
Um so neugieriger war ich, als dieses Buch im Herbst 2021 erschien, nachdem sich mir trotz aller Lektüre, regelmäßigem Hören von BBC World Service und Gesprächen mit Briten hier und drüben das Phänomen nicht erschloss. Entweder war es sehr komplex oder völlig blödsinnig. Obwohl ich schon so eine Ahnung hatte. Schließlich kenne ich die Mentalität jenseits des Kanals recht gut. Nun widmet sich der Historiker Volker Berghahn dem Thema im geschichtlichen Detail. Von einer sehr erhellenden und von einer enttäuschenden Seite.
Die neuere Geschichte Großbritanniens beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts, als es eine Weltmacht war, in militärischer Hinsicht und in politischer. Es war der erste Staat, der die Industrialisierung nutzte und wesentliche technologische Fortschritte begründete. Seine Macht und sein Reichtum lagen auch in seinen Kolonien begründet, die zusammen mit der Heimatinsel das British Empire bildeten und ein riesiges Handelsnetz darstellten. Die Zukunft Großbritanniens sah rosig aus. Bis der erste Weltkrieg kam, in den Großbritannien hinein gezogen wurde. Diesen Krieg gewann das Königreich, zusammen mit Frankreich und den USA. Doch es war ein Phyrrussieg. Dieser Krieg kostete Großbritannien nicht nur viele Menschenleben auf den Schlachtfeldern in Frankreich und Belgien, sondern auch viel Kapital. Noch bevor das Land sich einigermaßen erholt hatte, brach Deutschland den nächsten Weltkrieg vom Zaun. Wieder siegte Großbritannien mit den Allierten, doch war danach noch geschwächter als zuvor. Wie schon nach dem ersten, so hofften die Briten auch nach dem zweiten Weltkrieg vergeblich auf wirtschaftliche Unterstützung durch die USA. Damit nicht genug. Spätestens nach dem zweiten Weltkrieg hatten sich die Amerikaner als die militärische und industrielle Nummer Eins in der Welt etabliert. Die Deutschen hatten die Briten hinsichtlich industrieller und wirtschaftlicher Kapazität schon lange überholt.
Im zweiten Teil rekapituliert und interpretiert Berghahn die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg in Großbritannien in vielen Einzelheiten. Die Deindustrialisierung der Wirtschaft unter Margaret Thatcher und den Abbau der Industrie zugunsten der Finanzwirtschaft, die Folgen der weitreichenden Privatisierung öffentlicher Bereiche, den Umbau der politischen Parteien. Schließlich die Ankündigung des Referendums zum EU-Austritt durch David Cameron und das Trauerspiel danach. Die Vertragsverhandlungen mit der EU, das Polittheater der Tories, den Untergang der Labour Party. Nicht zuletzt, dass der große Verlierer des Austritts Großbritannien selbst ist, in Zahlen und Fakten. Für mich überraschend: auch Volker Berghahn kann nicht wirklich schlüssig begründen, warum die Briten die EU verließen. Es hat etwas mit dem Nichtanerkennen zu tun, dass die Zeit des Vereinigten Königreiches als Weltmacht lange vorbei ist und dass diese Bedeutung nie zurück kommen wird. Doch es hat auch viel mit falschen Versprechungen eines Boris Johnson und eines Nigel Farage zu tun, herbeiphantasierten Zahlen und Verdrehungen der Wirklichkeit. Nicht zuletzt der Suche nach einem Schuldigen für den Niedergang Großbritanniens und den Verlust des Empire. Das irgendwie immer noch in vielen Köpfen herum spukt. Berghahn liefert mit diesem Buch eine erhellende Analyse der Neuzeit nicht nur in Großbritannien. Auch wenn er die entscheidende Antwort am Ende nicht liefern kann. Was mich als genetischer 25%-Engländer irgendwie auch beruhigt.
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