Dirk Brockmann: Im Wald vor lauter Bäumen
Es gibt in den Wissenschaften ganz schon schmutzige Ecken. Zu diesen zählt zum Beispiel die theoretische Physik, die in etwa so übel ist wie die theoretische Chemie. Genau aus einer solchen Ecke kommt Dirk Brockmann. Wenn der jetzt etwas über Themen schreibt wie Kritikalität, komplexe Netzwerke oder Kipppunkte, ist Fürchterliches zu erwarten. Oder? Entwarnung, Brockmann behandelt in seinem Buch eigentlich schwierige wissenschaftliche Themen. Trotzdem bin ich als Durchschnitts-Journalist und -Informatiker prima damit zurecht gekommen. Ganz im Gegenteil, fast hätte ich Brockmann als einen kleinen Bill Bryson geadelt. Es geht um Brockmanns Spezialgebiete von der theoretischen Physik über die Komplexitätsforschung bis zur Chaostheorie. Wobei er in der Lage ist, komplexe Fragestellungen ohne viel Mathematik, Physik oder intellektuelle Purzelbäume abzuhandeln. Ganz im Gegenteil, es ist ein spaßiges Buch, das zeigt, wie komplex einerseits und überschaubar andererseits unsere Welt ist. Wenn wir die Regeln beachten. Warum lesen das nicht mal unsere Politiker?
Wenn man, wie Brockmann, aus einem bestimmten Bereich der Wissenschaft kommt, beschäftigt man sich nicht mehr mit spezifischen Dingen, wie der Zusammensetzung eines Stoffes oder den Gesetzen hinter einem physikalischen Geschehen oder der Programmierung einer Funktion in einem Computer, sondern mit dem, was die Welt im Inneren zusammen hält. Des Pudels Kern, so zu sagen. Da geht es um universelle Gesetze und Regeln, losgelöst von der eigentlichen fachlichen Thematik. Aus dieser Sicht wendet Brockmann diese Erkenntnisse nicht nur auf die Physik an, sondern auch auf die Ökonomie, Ökologie, Biologie oder sogar auf das menschliche Zusammenleben. Das klingt erst einmal verwegen. Doch er beweist, dass das tatsächlich so ist. Wenn man mal einen großen Schwarm Stare beobachtet hat, und wie dieser Schwarm wie ein einziger lebender Organismus reagiert, fragt man sich, wie das funktioniert. In der Tat ist das erforscht worden. Gelten dann aber die Resultate nicht nur für einen Schwarm Vögel oder Fische, Menschen verhalten sich genau so. Einschließlich katastrophaler Fehler, wie bei der Love Parade in Duisburg zu beobachten war.
Brockmann beschäftigt sich mit den Regeln in komplexen Systemen und Netzwerken. Was dabei heraus kommt, ist nicht die Antwort für einen Fall. Sondern für sehr viele. Die Ergebnisse gelten selbst für Situationen, wo man beim ersten Kontakt keinen Bezug sieht. Das ist der Grund, warum sich Brockmann in die Sachgebiete vieler Kollegen einmischt, die oft durch die gleichen Lösungen für unterschiedliche Fragen gewinnen. Es ist aber nur der erste Schritt, Komplexität zu verstehen. Und unsere Welt ist mittlerweile mal furchtbar komplex, mal furchtbar kompliziert. Was nicht das Gleiche ist. So erreicht das Buch gleich zwei Ziele. Einmal Komplexität zu verstehen und zu akzeptieren, dann Komplexität zuzulassen, weil wir um sie nicht herum kommen. Optimal wird es, wenn wir Komplexität nutzen. Sei es in der Ökologie oder im Straßenverkehr.
Was zuerst unendlich schwergängig klingt, wandelt sich bei Dirk Brockmann zu einem äußerst unterhaltsamen, humorvollen und lehrreichem Ausflug in die Theorie der Komplexität. Zugleich lernt man etwas über Netzwerke, ob im menschlichen Körper, in der Gesellschaft oder bei Tieren. Über Kooperation, wie und warum sie funktioniert, und wie nützlich sie ist. Auch, was Kipppunkte sind und warum gerade an dieser Stelle der Mensch in den letzten Jahrzehnten mit seiner Umwelt Schindluder treibt. Brockmann gilt als exzellenter Physiker und großer Geist unserer Zeit. Dass er auch ein großartiger Autor ist, beweist er in diesem Buch. Lesen und staunen ist hier die Devise.
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