Ortwin Renn: Gefühlte Wahrheiten
Geht man einmal dreihundert Jahre zurück, sammelten Menschen Erfahrungen und Wissen aus ihrer direkten Umwelt. Was in Haus und Hof funktionierte und was nicht, was stimmte und was nicht. Wir dagegen haben es im Vergleich dazu schwer. Unsere Umwelt ist so komplex und unüberschaubar geworden, dass wir ständig auf die Aussagen und Urteile anderer Leute angewiesen sind. Selbst in den Siebzigern des 20. Jahrhunderts noch interessierte uns im Wesentlichen Deutschland, eventuell noch ein bisschen die USA. Heute landen Vorgänge und Geschehen in Ländern auf der anderen Seite der Welt in Sekundenbruchteilen auf unserem Smartphone. Unmöglich, sich da eine eigene Meinung zu bilden, geschweige denn Richtiges von Falschem zu unterscheiden. Doch haben nicht wenige Menschen damit ein Problem. Selbst wenn die Möglichkeit bestehen würde, Nachrichten zu überprüfen, wer wollte denn ohne das nötige Fachwissen entscheiden, ob mRNA-Impfstoffe sicher sind, Glyphosat gefährlich oder harmlos, ob sich tatsächlich das Weltklima verändert. Doch wem vertrauen und was bezweifeln? Ortwin Renn kommt aus der Risikoforschung, hat sein Buch in 2022 für die 3. Auflage grundlegend überarbeitet sowie die Erfahrungen mit Corona und Flüchtlingskrise einfließen lassen. Und widmet sich ausgiebig der Frage, warum sich so viele Menschen lieber auf gefühlte Wahrheiten aus sozialen Medien als auf Ergebnisse der Forschung und Ratschläge von Wissenschaftlerinnen und Experten verlassen.
Wenn es um gesundheitsschädliche Auswirkungen des Rauchens geht, hat sofort jemand das Beispiel eines Opas oder einer Tante parat, die ihr Leben lang geraucht haben und mit über 90 Jahren an Altersschwäche gestorben sind. Anhand solcher Beispiele führt Renn in grundlegende Methoden der Stochastik ein. Zu Deutsch der Wahrscheinlichkeitstheorie. Dass die Regel „Wenn A dann B, und wenn nicht A, dann nicht B“ eben nicht gilt, wenn man nur leicht komplexe Systeme betrachtet. Es werden aber noch andere Grundlagen gelegt, wie zum Beispiel über Plausibilität, Intuition, Vertrauen und das Problem der kognitiven Dissonanz. Auch dazu, dass wir, wie andere Lebewesen, auf Gefahren intuitiv mit Flucht, Kampf oder Totstellen reagieren. Ist die Entscheidung über den richtigen Reaktionsweg unklar, übernimmt die Angst das Kommando. Überhaupt geht es im ersten Teil des Buches um grundlegende statistische wie auch psychologische Grundlagen. Nicht umsonst zitiert gerade hier Renn andere Autoren wie Gerd Gigerenzer oder Niklas Luhmann. Schon in dieser eigentlichen Hinführung wird deutlich, dass es mit Wahrheiten, Fakten, Intuition oder Plausibilität nicht weit her ist. Viele praktische Beispiele machen sichtbar, dass wir sehr schnell falschen Schlüssen und Einschätzungen auf den Leim gehen. Warum wir oft nur das sehen, was wir sehen wollen. Wirklich plakativ werden diese Fehlleistungen, wenn sie auf Flüchtlingskrise und Corona-Pandemie angewandt werden. Themen sind die angeblich vielen kriminellen arabischen Jugendlichen, Impfgegner und Corona-Leugner. Wenn sich ein Schweizer Mediziner dazu hergibt, im Fernsehen über Corona-Impfstoffe hanebüchenen Unsinn zu erzählen, obwohl er es besser wissen müsste. Wenn Zahlen und Daten aus offiziellen Quellen glattweg geleugnet werden und Verschwörungserzählungen grassieren. Weil die vorliegenden Fakten den eigenen zusammen geschusterten Überzeugungen entgegen laufen. Wenn das Vertrauen in Institutionen und sogar den Staat massiv beschädigt ist. Wie Renn formuliert: Dass Wahrheitsbehauptungen keine Wahrheit sind. Was aber nicht immer nur Schuld dieser Institutionen ist, sondern auch ein Phänomen unserer immer komplexer werdenden Epoche.
Teil Zwei nähert sich den nächsten Fallen an. Es geht um Medien. Nicht nur um die recht neuen Sozialen Medien mit Echokammern und Facebook-Gruppen zu den merkwürdigsten Interessengebieten, sondern genau so um die klassischen, wie Zeitungen, Radio und Fernsehen. Renn sammelt noch einmal die Punkte zusammen, die in Medien über Medien seit langer Zeit das Bild bestimmen. Drastisch reduzierte Zahl an Redakteuren, Aufmerksamkeits-Ökonomie, lieber eine schnelle aufmerksamkeitsstarke Schlagzeile als eine korrekte. Je größer die Katastrophe, je mehr Tote oder je abstruser das Geschehen, desto besser und desto interessierter die Leserinnen und Leser. Die die jeweilige Angelegenheit nach drei Tagen wieder vergessen haben. Es sei denn, man kann eine Woche lang Politikern oder Journalisten noch einen Strick daraus drehen. Und wieder wird eine Wirklichkeit konstruiert, die objektiv schlichtweg nicht existiert. Ortwin Renn unterlegt diese Analysen einer postfaktischen, postethischen Medienlandschaft mit vielen Beispielen, auch aus seiner eigenen Praxis als Wissenschaftler. Warum zunehmend die reale Welt in eine virtuelle überführt wird. Weil viele Menschen überfordert sind, von Globalisierung, tausenden Meinungen und undurchschaubaren Zusammenhängen. Aber auch die Menschen selbst sind Teil des Problems. Wie sich in Experimenten aus Hochschulen zeigt, die teils verblüffende Erkenntnisse freilegen. Wenn die ewige menschliche Suche nach Sinn bedingt, dass sich Teilnehmer eines Versuchs aus zufällig generierten Antworten auf ihre Fragen daraus eine plausible Geschichte zusammen stricken. Da versteht man dann sehr gut, wie Verschwörungserzählungen entstehen. Aber es sind eben auch und gerade konventionelle Medien, die gezielt oder unfreiwillig solche Entwicklungen befördern.
Im dritten Teil dehnt Renn seinen Fokus auf Politik und Wissenschaft aus, womit es deutlich anspruchsvoller wird. Wie sieht dieser Teil des öffentlichen Lebens in postfaktischen, postethischen und postdemokratischen Zeiten aus? So, wie sich Entscheidungswege und -verfahren eben durch zunehmende Abhängigkeiten und Verknüpfungen verkompliziert haben, wird Politik leider immer undurchschaubarer und schwieriger. Zielkonflikte werden immer häufiger und schwerer zu kommunizieren. Populistische Parteien lösen solche Probleme gerne durch Neutralisieren von Problemen. Wenn eine notwendige Anpassung der Energiepolitik negative Auswirkungen auf Regionen der Stahl- und Kohleproduktion hat, wird einfach die Klimaveränderung verleugnet, und alle Probleme sind gelöst. Die gerade bei Populisten gern genommenen einfachen Antworten auf schwierige Fragen sind Methode. Und sie lassen sich auf die am Anfang des Buches entlarvten Glorifizierungen von Plausibilität und Intuition zurück führen. Renn sieht Lösungen nur in einer transparenteren Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern, jedoch unter der Voraussetzung einer Einigung auf die basalen Werte in unserem Staat. Welche sich im Grundgesetz finden, jedoch gerne von Leuten aus dem ganz linken oder ganz rechten politischen Spektrum verbogen werden. „Wir sind das Volk“ in der Endphase der DDR hatte Souveränität und Freiheit als Bedeutung, nicht Ausgrenzung oder Spaltung wie heute bei Rechtspopulisten. Ganz am Ende, als letztes Kapitel, geht es zurück zu Leserinnen und Lesern, mit einer Zehnpunkteliste, wie man in diesen unübersichtlichen Zeiten Desinformation, Fehlinterpretationen und von Suchmaschinen vorgefertigten Tendenzen entgeht. Warum Plausibilität, Intuition und gefühlte Wahrheiten eben schon lange nicht mehr helfen.
Renns Buch ist keine Suche nach Welterklärung. Er sucht kein Heilmittel für Querdenker und die teils katastrophalen Auswirkungen von Echokammern in Facebook und X, früher Twitter. Viel mehr will Renn Leserinnen und Lesern vermitteln, wie sie kognitive Verzerrungen und Fehlschlüsse umgehen, wie sie Fake News erkennen und vermeiden. Deshalb beschränkt sich das Buch in Kapiteln über Statistik oder Psychologie nur auf die Themen, die für ein grundlegendes Verständnisse der Zusammenhänge notwendig sind. Es ist weder Lehrbuch noch wissenschaftliche Abhandlung. Es ist ein Buch für das lesende Publikum, für alle Leute, die aus Sicht eines Wissenschaftlers, dessen Fachgebiet die Risikoforschung ist, verstehen wollen, was da heute so schräg und unerklärbar in Medien, Politik und Gesellschaft passiert. Mit den vielen praktischen Beispielen und Demonstrationen, wie man in seinen Einschätzungen ganz schnell daneben liegen kann, macht das Buch sogar Spaß. Wenn man zu etwas Selbsterkenntnis und Selbstkritik bereit ist. Populärwissenschaft im besten Sinne des Wortes.
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