David Graeber/David Wengrow: Anfänge
Jean-Jacques Rousseau behauptete, die Ungleichheit der Menschen hätte begonnen, als nach dem Übergang vom Jäger und Sammler zur Landwirtschaft ein Bauer seinen Acker einzäunte und zu seinem Privateigentum erklärte. Man muss dem Genfer Philosophen zugute halten, dass man zu seiner Zeit über die Frühzeit des Homo Sapiens so gut wie nichts wusste. Erst moderne Methoden der Archäologie und der Biogenetik in den letzten Jahrzehnten haben einige zuverlässigere Hinweise ergeben, wie die Geschichte der Menschheit verlief. Während in den Schulen immer noch stereotype Geschichten erzählt werden. Dieses Buch möchte das ändern. Entstanden ist es aus den Diskussionen eines Anthropologen und eines Archäologen über einen Zeitraum von über zehn Jahren. Seit dem 19. Jahrhundert stritt die Wissenschaft darüber, wie eigentlich Menschen ganz früher gelebt haben, wie sie in Gemeinschaften zusammen fanden, ob sie viel oder wenig arbeiteten, wie überhaupt das Leben in der Zeit vor der Neolithischen Revolution, dem Übergang zur sesshaften Landwirtschaft, aussah und verlief. Es geht zum größten Teil um die Jungsteinzeit bis zu den letzten Jahrtausenden vor unsere Zeitrechnung. Wengrow und Graeber zeichnen ein anderes Bild als das gewohnte. Der Ausgangsgedanke im Buch ist überraschend, hat aber mit Rousseau zu tun. Nämlich ob es Ungleichheit unter den Menschen, sozial und wirtschaftlich, schon in den Anfangstagen gab. Oder wann sie so wurde, wie sie heute ist. Auf jeden Fall war alles ganz anders, als Rousseau meinte.
Die Sache ist kompliziert. Und eine lange Geschichte. Oftmals wird so getan, als hätte die ganze frühe Menschheit vor 10.000 Jahren von heute auf morgen mit dem Jagen und Fischen aufgehört und Mais, Weizen und Linsen angebaut. Die Wirklichkeit ist anders, denn über die gesamte Welt gesehen, muss man von einem Zeitraum von 20.000 bis 5.000 v. Chr. sprechen. Selbst das ist nicht korrekt, denn noch heute gibt es Stämme, die sich schlichtweg weigern, Landwirtschaft zu betreiben. Oder die Einen bauten nur Getreide und Gemüse an, ohne domestiziertes Vieh, die Anderen züchteten Schafe und Ziegen. Manche blieben beim Jagen oder Fischen und bauten nur etwas Gemüse an, mal hier, mal dort, ohne Sesshaftigkeit. Ohne Zweifel ging die Sache vom fruchtbaren Halbmond aus, am nördlichen Rand der Syrischen Wüste, die sich im Norden an die Arabische Halbinsel anschließt. Wanderte dann langsam nach Mittel- und Nordeuropa, aber selbst dieser Verlauf hat seltsame Brüche und es war keine Seltenheit, dass in einigen Gebieten der Landbau wieder aufgegeben wurde. Noch interessanter die Lage auf den beiden Teilen des amerikanischen Doppelkontinents. Während im Nordwesten Amerikas noch fleißig gejagt und gefischt wurde, die Menschen dort gerne rauschende Feste feierten, waren die Kalifornier eher so etwas wir bäuerliche Protestanten. Auf dem südamerikanischen Teil waren ganz andere Kulturen zu finden, dort entstanden die ersten Großstädte. Zurück zur Ausgangsfrage. Ob eine Kultur egalitär oder hierarchisch organisiert war, hängt von so vielen Faktoren ab, dass die Frage im Grunde überflüssig ist. Ebenso die Frage, wann Städte entstanden, ist eher eine Frage der Definition. Das Fazit ist, dass die Entwicklung überall auf der Welt so unterschiedlich war, dass man von „der“ Entwicklung der Menschheit gar nicht sprechen kann.
So kompliziert und unübersichtlich das Thema ist, brauchen Wengrow und Graeber dann über 600 klein gedruckte Seiten, ohne Quellenverzeichnis und Ergänzungen. Mit diesen über 800 Seiten. «Anfänge» ist deshalb erst einmal ein sehr dicker Wälzer, denn es geht um viele Details, viele Kulturen und viele Orte. Der etwas philosophische Einstieg im ersten Kapitel könnte abschrecken, weil er mit Geschichte wenig zu tun hat. Ab da jedoch erwartet einen keine chronologische, faktenschwere und rein wissenschaftliche Geschichte, sondern eher Literatur. Eine nicht nur von Anthropologie und Archäologie bestimmte Dokumentation, sondern tatsächlich ein Stück Literatur im besten Sinne. Die Autoren haben sich bewusst dafür entschieden, stilistisch im Erzählen zu bleiben, Unsicherheiten bei sich zu belassen. Widersprüche und Merkwürdiges machen die Geschichte interessanter als dass eine stringente Darstellung verfolgt wird. Man braucht schon einen langen Atem beim Lesen. Doch gerade der erzählende, umher schweifende Stil belohnt mit überraschenden, unerwarteten und unterhaltenden Fakten über die Anfänge der Menschheit. Ein sehr dickes Buch voller Küchenzurufe. So langsam verliere ich meine Angst vor dicken Büchern, denn sie können eine Menge Spaß machen. Wie dieses.
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