Philipp Sarasin: 1977
Manche Jahreszahlen haben sich eingeprägt, wie 1933, 1945 oder 1989. Zumindest in Deutschland. Aber was war so Besonderes in 1977? Ich bezeichne die Zeit, so um die Mitte der Siebziger, gerne als Beginn der Moderne. Forscht man etwas genauer nach, führten tatsächlich in 1977 viele Linien der gesellschaftlichen, kulturellen wie politischen Entwicklung, sowohl in Deutschland als auch in Europa, zu einem markanten Fixpunkt. Vieles von dem, was heute alltäglich ist, war damals neu und ein großer Fortschritt. Das Spektrum der Themen ist breit, angefangen beim Offensichtlichen wie dem ersten industriell gefertigten Homecomputer auf dem Cover. Doch der Blick in die Annalen offenbart mehr: der so genannte deutsche Herbst, die ersten greifbaren Ergebnisse der Genforschung und dem Aufkommen biologistischer Diskussionen, politische Umwälzungen und Neuorientierungen, bis hin zu neuen Stilen in der Musik, zum Teil noch relevant oder nur noch in Spuren in den heutigen Medien zu hören. All diese Phasen bis zu Ereignissen fasst Philipp Sarasin zusammen. Mit dem endgültigen Betrachtungsende 1977, jedoch mit umfassenden Rückblicken bis zu 1933. Leider passiert ihm das Gleiche, was mir oft in meinen Buchrezensionen passiert: Er taucht ein bisschen tief ab.
Dabei ist Sarasins Ansatz erst einmal plausibel und macht ein thematisches Gerüst aus. Er beginnt den jeweiligen Themenblock mit der Geschichte eines Menschen, der in 1977 starb und der gleichzeitig für das Thema relevant war. Wie Ernst Bloch für die politische Revolution und zur Frage nach Sozialismus oder Kapitalismus. Die Amerikanerin Fannie Lou Hamer steht für Entwicklungen in Fragen der Menschenrechte, gegen Rassismus und Ausgrenzung. Anaïs Nin starb schon im Januar 1977, ihre Tagebücher und ihre persönliche Geschichte leiten in gesellschaftliche und kulturelle Fragen in dieser Zeit ein. Jacques Prévert bildet den Zugang zu Technik und Architektur. Und Ludwig Erhard steht wie kaum ein anderer Politiker für die politische und wirtschaftliche Entwicklung im Nachkriegsdeutschland. Das Grundgerüst des Buches ist also stimmig und interessant. Doch leider unterläuft Sarasin dann ein Fehler.
Er taucht bei den Kapiteln abgrundtief in Details ein. Allein die Darstellungen der Revolution und was aus ihr wurde, beim entstehenden Feminismus und der Bedeutung der Menschenrechte wie auch im Bereich politische und persönliche Emanzipation machen ein Drittel des Buches aus. Diese Detailverliebtheit ließ mich viele Abschnitte großzügig überspringen. Erst in Technik und Architektur wird es wieder fassbarer und interessanter. Wie aus den Bastelbuden und Garagen die neue IT mit Personal Computern entstand, macht gesellschaftliche und technische Einzelheiten schon sinnvoll im Zusammenhang zu verstehen. Genau so die kulturellen Schritte, Punk, Disco und elektronische Musik, Architektur, sind gerade für Leute, die die Zeit selbst bewusst erlebt haben, einen zweiten und dritten Blick wert. Aber auch hier greift Sarasin zu tief in die Details. Das Buch hat eine Menge lesenswerter und faszinierender Einzelheiten zu bieten, die aus einem rein technischen Blick oft übersehen werden. Aber in Summe verläuft sich Sarasin zu sehr in den Abgründen der Geschichte und der Philosophie. Irgendwo müssen die 500 Seiten ja her kommen. Wenn man sich darauf vorbereitet, ab bestimmten Punkten den Gedankengang des Autos zu verlassen, bietet das Buch neue Einsichten und verbindet scheinbar fremde Gebiete wie Gesellschaft und Technik. Doch wäre hier mal wieder weniger mehr gewesen.
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