Felix Heidenreich: Demokratie als Zumutung

Gehe ich in meinen Erinnerungen 50 oder mehr Jahre zurück, in die Zeit des Wirtschaftswunders und in den Siebzigern in die Modernisierung der Bundesrepublik, tauchen viele Fragen auf. Selbst in der späteren Phase war die Welt um mich herum, im Vergleich zu heute, eher homogen. Zwar wählte mein Vater SPD und ein Onkel CDU, aber vor dem Haus standen ein Kommunist und ein Erzkonservativer noch beieinander und diskutierten. Inzwischen ist die Atmosphäre frostiger geworden, oder, wie man so sagt, die Gesellschaft ist stark ausdifferenziert. Doch auch das Verhältnis der Menschen zum Staat hat sich stark verändert. Behörden, Regierung und Kommunen, leider auch zivile Dienste wie Polizei, Feuerwehr oder sogar Sanitäter, werden nicht selten mit Argwohn betrachtet. Wenn nicht sogar, wie Anfang Januar 2023 in Berlin, angegriffen, beschimpft, verspottet. Nicht wenige Bürgerinnen und Bürger sehen „den Staat“ als einen Lieferanten, der ihnen das Gewünschte und Bestellte zügig liefert, aber ansonsten möglichst keine Ansprüche an sie stellt. Freiheit wird überwiegend als negative Freiheit gesehen, als „Freiheit von“. Bloß keine Verbote und Einschränkungen, bloß kein Tempolimit. Heidenreich nennt es die Ökonomisierung des Staates, gepaart mit einer Infantilisierung. Ein wirklich demokratischer Staat muss an seine Mitglieder, auf allen Ebenen, Ansprüche stellen. Dass diese Zumutungen wie Wahlen, Bürgerbeteiligungen bis hin zu Wehrpflicht und Freiwilligem Sozialen Jahr mehr sind als hinderliche Pflichtübungen, gleichzeitig Privilegien sind, ist vergessen. Dabei geht es anders, wie Heidenreich mit Beispielen aus der Schweiz, aus Irland und Kanada zeigt. Wenn wir die Demokratie in Deutschland erhalten wollen, brauchen wir ein anderes Verständnis von Bürgertum. Und müssen wieder mehr Zumutungen wagen.

Felix HeidenreichDemokratie als Zumutung

Anstatt den Leuten klar zu sagen, was geht und was nicht, werden an den Autobahnen riesige Poster aufgestellt. Man solle doch bitte nicht so schnell fahren und aufmerksam sein. Nicht mit den Handy herum daddeln. Wahlplakate glänzen heute mit hohlen Phrasen und nichtssagenden Parolen. Eine klare politische Aussage wird vermieden. Bloß niemanden verschrecken. Oder gar in Anspruch nehmen. Der Staat benimmt sich wie ein verunsicherter Elternteil, der seine Kinder vor allem Unbill schützen möchte. Letztendlich nichts mehr von ihnen erwartet. Die Wahlbeteiligung von 25% bei EU-Wahlen entsprechen dem. Die andere Seite sieht den Staat wie einen Onlinehändler. Innerhalb von 24 Stunden versandkostenfrei geliefert, bei Nichtgefallen wird zurück geschickt. Alles ein großer Spaß. Doch kann ein Staat so nicht funktionieren. Ein demokratischer Staat erfordert die Beteiligung seiner Bürgerinnen und Bürger, Engagement und kritische Reflektion zugleich. Doch das aktuelle Ungleichgewicht der Ansprüche bewirkt, dass sich seine Bewohnerinnen und Bewohner abwenden, Rückzug ist angesagt. Felix Heidenreich schlägt andere Maßnahmen vor, die er aus seinen wohl detaillierten Kenntnissen aus der Schweiz und aus Frankreich kennt. Er wünscht sich eine Demokratie, die in Anspruch nimmt. Mögliche Wege zeigt er zuhauf. Doch sie fordern in jedem Fall ein anderes Verständnis von Bürgerlichkeit. Angefangen bei Bürgerräten und Bürgerdiensten, eine mögliche Wahlpflicht, Einberufung in ein Bürgeramt per Los, Subjektivierung in der Schule und Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in Verwaltung und Rechtsprechung. Einsatz für die Gemeinschaft in Pflichtfeuerwehren, wie in Schweizer Kantonen, Demokratie als Lerngemeinschaft.

Heidenreich listet nicht einfach tolle Ideen und spontane Einfälle auf, sondern führt sie entweder auf politikwissenschaftliche oder historische Vorgeschichte zurück. Das Buch ist eine durchdachte und strukturierte Reise durch Politik, Philosophie und Geschichte. Es bleibt auch keineswegs konkrete Beispiele schuldig. Gerade die Schweiz, so unterschiedlich die einzelnen Kantone vorgehen, liefert viele Beispiele für Bürgerbeteiligung und Bürgerverpflichtung. Eine klare Ansage steht immer dahinter: Dass es nicht der Staat sein kann, der alles richtet und jedem seine individuelle Wohlfühloase bereit stellt. Wenn die Demokratie funktionieren und blühen soll, muss möglichst jeder Einzelne mitziehen, seinen Anteil einbringen und auch bereit für Zumutungen sein. Es gilt, die Ökonomisierung und Infantilisierung in diesem Staat zu stoppen. Ihn nicht zu einem Selbstbedienungsladen verkommen zu lassen. Leider pushen gerade einzelne Parteien und Gruppen diesen Prozess und bewirken das Gegenteil von dem, was sie zu fördern vorgeben. Seien sie in der angeblichen Mitte der Gesellschaft verortet, oder am rechten bis rechtspopulistischen Rand. Freiheit ist selten „Freiheit von“, sondern oft „Freiheit zu“.

Bettlektüre ist Felix Heidenreichs Buch sicher nicht. Im Gegenteil, streckenweise wird es anspruchsvoll, den Schlüssen und Gedankenlinien zu folgen. Der Autor mutet dem Leser auch etwas zu. Nämlich zu verstehen, dass Anspruchsdenken und Rückzug ins Private eine Demokratie nicht am Leben erhalten werden. Noch werden die immer schneller einschlagenden Krisen zu bewältigen sein, vom Klima über Einwanderung bis zu Pandemien durch fehlenden Arten- und Naturschutz. Weil diese Krisen eine Gemeinschaft erfordern, kein lässiges nebeneinander her. Doch das Buch bindet den Leser in Geschichten ein, Heidenreich könnte tatsächlich auf den richtigen Spuren unterwegs sein. Aber, wie ich immer wieder gerne sage: Sind eh die falschen Leute, die das Buch lesen werden.

Felix Heidenreich (* 1973 in Freiburg) ist ein deutscher Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter am Internationalen Zentrum für Kultur und Technikforschung der Universität Stuttgart. Bis 1997 studierte er Politikwissenschaften und Philosophie sowie der mittleren und neueren Geschichte in Heidelberg. Nach Stationen an französischen Hochschulen war er von 2001 bis 2003 Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg. Dort schreib er auch seine Dissertation über «Mensch und Moderne bei Hans Blumenberg» bei Prof. Dr. Rüdiger Bubner. In 20177/2018 hatte er eine Gastprofessur auf dem Chair Alfred Grosser, SciencesPo Nancy, mit einem Forschungsprojekt angebunden am CEVIPOF, SciencesPo Paris. Im Oktober 2018 folgte ein Forschungsaufenthalt in Kyoto. Seit Mai 2019 chercheur associé am CEVIPOF, SciencesPo Paris sowie Venia für das Fach Politikwissenschaft.

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