Till Kössler/Janosch Steuwer: Brandspuren

Die  Brandanschläge auf Häuser türkischstämmiger Bewohner in Mölln und Solingen, dazu die pogromartigen Überfälle auf ausländische Arbeitskräfte und Flüchtlinge in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, sind Teil bundesdeutscher Geschichte. Doch waren diese Geschehnisse nur Highlights rechtsextremen und fremdenfeindlichen Terrors. Die wahren Verhältnisse sind weitgehend vergessen. Zwischen September 1991 und Juli 1993 registrierten die Behörden mehr als 1.200 Brandanschläge auf von Ausländern und Flüchtlingen bewohnte Häuser. Hinzu kamen rund 2.700 schwere Körperverletzungen aus fremdenfeindlichen Motiven. Kaum erfasst wurden die kleinen Tätlichkeiten und Beleidigungen, die für viele Menschen Alltag waren, die nicht „deutsch“ aussahen. Seit 1993 ist die Zahl der Brandanschläge und schweren Ausschreitungen deutlich zurück gegangen. Die Zahl der Angriffe auf subjektiv nichtdeutsche Personen stabilisierte sich dagegen auf hohem Niveau. Till Kössler und Janosch Steuwer haben einen Band heraus gegeben, der 22 Beiträge zur rechtextremen bis nationalsozialistischen Geschichte in Deutschland seit Ende des zweiten Weltkrieges bis in die späten Neunziger zusammenfasst. Wie üblich, wenn man hinter die Oberflächlichkeiten alltäglicher Nachrichten schaut, zerlegen die Zahlen und Fakten viele gewohnte Stereotype. Weder ist die rechte Gewalt ein ostdeutsches Phänomen, noch war der Westen in der Zeit nach der Wiedervereinigung und davor ein demokratisches Musterland. Man sollte zum Beispiel nicht vergessen, dass die größten rechten Hetzer der AfD wie Björn Höcke aus Hessen und Andreas Kalbitz aus München stammen. Hat der Westen also den Rechtsextremismus erst in den Osten exportiert?

Till Kössler/Janosch SteuwerBrandspuren

Wenn heute von Rechtsextremismus die Rede ist, wird der erst einmal im Osten verortet. Die Wessis haben eben ein schlechtes Gedächtnis. Tatsächlich war die Sache etwas anders. Nach den sozusagen originalen Nazis, deren Ideologie noch stark im Dritten Reich verankert war, folgte in den Siebzigern eine neue Generation von Rechten. Während bei den Altnazis noch vorrangig politische und gesellschaftliche Fragen relevant waren, standen bei den Neonazis, zu denen die damals aufkommenden Skinheads und Hooligans gehörten, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus im Vordergrund. Die Saat fiel auf fruchtbaren Boden. Man denke an die Wahlerfolge der damaligen DVU und der Republikaner. Von der NPD ganz zu schweigen. Zwar gab es in den Siebzigern und Achtzigern in der DDR auch schon sichtbare rechtsextreme Kräfte, doch das Regime sprach ihnen politische Gesinnung ab und schuf dafür im antifaschistischen Strafrecht das „Rowdytum“. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Dann kam der November 1989. Tatsächlich waren auf den Montags-Demonstrationen vereinzelt Reichskriegsflaggen zu sehen, wie auch andere rechte Symbole. Mit der Wiedervereinigung 1990 entstand nun eine besondere Situation. Es entstand ein Machtvakuum, die SED war entmachtet, Stasi und Volkspolizei ebenso.

Der Übergang der Polizei in den neuen Bundesländern in ein demokratisches und rechtstaatliches Deutschland gestaltete sich schwierig. Es war eine neue Aufgabe für ostdeutsche Polizisten und Polizistinnen, diese andere Denk- und Beurteilungsweise zu übernehmen. Eigenverantwortliches Denken und Handeln mussten erst eingeübt werden. Gleichzeitig wandelte sich die Gesellschaft dort, näherte sich westdeutschen Gegebenheiten und Gewohnheiten an. Politische Strukturen bauten sich erst nach und nach auf, wobei rechtsextreme Gruppen bei der ersten freien Volkskammerwahl aufgrund der noch geltenden Wahlgesetze ausgeschlossen waren. In dieses Vakuum stießen besonders rechtsextreme Westdeutsche. Rechtsextremisten nutzten die Lage und bildeten sich ein, eine quasi zweite Staatsgewalt bilden zu können. Die Angriffe auf Gastarbeiter und Asylanten hatten da schon lange in Westdeutschland begonnen, diese Welle schwappte im Zuge der Wiedervereinigung hinüber in den Osten. Die Analyse dieser Zeit und dieser Abläufe ist ein zentraler Punkt der Beiträge. Die gewalttätigen Angriffe auf Flüchtlinge und Fremdarbeiter im Osten waren also keineswegs eine Erfindung der neuen Bundesländer.

Die Beiträge behandeln unterschiedliche Aspekte des Themas im gesamten Deutschland, wie Migration und rechte Gewalt, maskuline Jugendszenen der Achtziger und Neunziger in Ost und West, Details zu Anschlägen wie in Obhausen oder Neustrelitz, Augenzeugenberichte aus Lichtenhagen, Pädagogik gegen rechts oder internationale Wahrnehmung der Gewalt gegen Ausländer in Deutschland. Oft kommt einem beim Lesen der Gedanke, dass da ja mal so etwas war. Es aber über die Jahre verloren gegangen ist. Doch geht es nicht nur um den Rückblick auf das bedrohliche Anwachsen der rechten Gewalt in den frühen Neunzigern in Ost und West, sondern die historische Entwicklung bis in die Neuzeit. Das fasst Janosch Steuwer im letzten Abschnitt über die Zeit der Brandanschläge und erinnerungspolitische Fragen nach 30 Jahren noch einmal trefflich zusammen. So kann man das Buch als historische Rückblende zum Verständnis der Gegenwart auffassen. Durch die Vielfältigkeit der Themen, Aspekte und Sichtweisen ein sehr interessantes Buch mit Sicht auf die Vergangenheit wie auch die Gegenwart.

Weitergehende Info: Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland seit 1990 (Statista), Rechtsextremismus (LeMO), Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus (KfN)

Till Kössler (* 6. April 1970 in München) ist ein deutscher Erziehungswissenschaftler und Historiker. Kössler wurde 2003 an der Ruhr-Universität Bochum zum Thema „Geschichte des Kommunismus in der Bundesrepublik“ promoviert. Anschließend war er bis 2011 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Geschichtswissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München und habilitierte sich 2011 mit einer Schrift über das Thema „Kindheit und Gesellschaft in Spanien vor dem Bürgerkrieg“. Ab 2011 lehrte er als Professor für die Sozialgeschichte des Aufwachsens und der Erziehung an der Universität Bochum, seit 2018 ist er Professor für Historische Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Als Gastwissenschaftler war er an der Universität Complutense Madrid, der University of California Berkeley und der New York University (Campus Shanghai) tätig. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die europäische Bildungs- und Kindheitsgeschichte, die Geschichte der Anlage-Umwelt-Debatte, die Geschichte von Gewalt und Gewaltüberwindung sowie die Geschichte autoritärer Regime nach 1945.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Till Kössler aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

Janosch Steuwer (* 1983 in Duisburg) ist im Hauptberuf Historiker. Von 2003 bis 2006 studierte er  Geschichte und Politikwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Von 2009 bis  2011 war er Mitarbeiter im Forschungsprojekt zur „Geschichte der Stiftung Erinnerung Verantwortung und Zukunft und ihrer Partnerorganisation“ mit dem Teilprojekt zum Thema „Öffentliche Meinung und Zwangsarbeiterentschädigung“. Seit 2020 ist Steuwer wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Historische Erziehungswissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg und forscht zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus sowie zur Geschichte des Umgangs mit der extremen Rechten in Europa seit den 1960er Jahren. Dazu ist er Herausgeber von «Geschichte der Gegenwart».

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