Mau/Lux/Westheuser: Triggerpunkte

Liest man regelmäßig in den sozialen Medien, aber auch in etablierten Zeitschriften oder schaut man Nachrichten im Fernsehen, könnte man meinen, in unserem Land sei das große Hauen und Stechen ausgebrochen. Ob Migration und Einwanderung, Gendersternchen oder die Ehe für Lesben und Schwule, überall scheint der große Konflikt ausgebrochen. Man dürfe nichts mehr sagen und die Grünen würden eh alles verbieten. Aber stimmt das so überhaupt, dass es in Deutschland nur noch um Streit und extreme Meinungen geht? Der Soziologe Steffen Mau hat sich in einer groß angelegten Studie mit dieser Frage beschäftigt, sowohl in Form von Umfragen als auch in Arbeitsgruppen mit Leuten in mehreren Großstädten. Um die untersuchten Inhalte einzugrenzen und zu wirklich konkreten Aussagen zu kommen, hat er deshalb vier von ihm so genannte Arenen definiert. Die Oben-Unten-Arena, die Innen-Außen-Arena, die Wir-Sie-Arena und die Heute-Morgen-Arena. Während die erste Arena geradezu klassisch ist und es um Umverteilung und soziale Gerechtigkeit geht, sind die weiteren drei Arenen eher Themen der Neuzeit. Es geht im Wesentlichen um Zuwanderung und Migration, um Identität und Zugehörigkeit, zuletzt im Kern um Klimawandel und Ökologie. In allen vier Arenen sollen Ungleichheiten, Diskurse und Konflikte identifiziert werden. Daraus dann abgeleitet, wie gespalten unsere Gesellschaft nun wirklich ist. Die im Vordergrund stehenden Triggerpunkte kommen erst im zweiten Kapitel auf den Tisch. Am Ende mit einem eher wenig überraschenden Ergebnis.

Mau/Lux/WestheuserTriggerpunkte

Doch Steffen Mau hat sich die Sache nicht leicht gemacht, was der Umfang des Buches schon andeutet. Es ist ja nicht fraglich, ob über diese Themen gestritten wird, oder wenigstens teils hitzig diskutiert. Daraus entsteht, in allen Medien immer wieder bemüht, ein Bild von einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft. Welche Form repräsentiert die andauernd beklagte Spaltung der Gesellschaft nun genauer? Ist es das Kamel, mit einem tiefen Tal in der Mitte, oder eher das Dromeda, mit einem einzelnen Buckel, der zu den Rändern immer weiter absinkt. Aufschluss geben soll der umfangreiche Fragenkatalog, mit den üblichen Verdächtigen wie „Flüchtlinge werden gegenüber Deutschen bevorzugt“ oder „Man darf nichts mehr unkritisiert sagen“, dazu die Gespräche mit Leuten in der direkten Diskussion. Da es sich jedoch um eine wissenschaftliche Untersuchung handelt, werden auch weitere Parameter in die Statistik einbezogen. Wirtschaftliche und berufliche Situation, Einkommen, politische Orientierung, ob eher progressiv oder konservativ eingestellt. Vor diesem Hintergrund liefert Mau eine große Zahl Tabellen, wie unterschiedlich Menschen aktuelle Fragestellungen bewerten und wie sie diese Fragen jeweils beantworten. Das Ergebnis ist dann sowohl überraschend als auch wieder nicht. In vielen wesentlichen Fragen sind sich die Leute weitgehend einig. Sei es Homoehe oder ankommende Flüchtlinge, gibt es so etwas wie einen Grundkonsens, dass schwul sein akzeptiert wird und dass es in Deutschland ein zu großes Gefälle in Besitz und Einkommen gibt. Wenn nun die Einen für eine unbegrenzte Einwanderung sind, die Anderen den Zuzug begrenzen wollen, geht es nicht um einen feindlichen Konflikt. Es geht um einen Diskurs und eine Aushandlung. Das über die breite Mitte, eine wirkliche Spaltung der Gesellschaft ist nicht zu sehen. Zwar gibt es links und rechts im politischen Spektrum radikale Randgruppen, die laut und aggressiv Anderes herum brüllen, doch das ist nicht die breite Mitte, die in Deutschland noch immer die Mehrheit stellt. Ohne die sozialen Medien wären die radikalen Gruppen an den Rändern gar nicht sichtbar. Überhaupt hat Deutschland in den letzten 20 Jahren einen deutlichen Zuwachs an Liberalität erfahren.

Und doch gibt es Situationen, in denen die Affekte durchbrechen und es emotional wird. Das sind die Triggerpunkte, die dem Buch den Namen geben. Auch die identifiziert Mau sehr konkret. Nämlich objektive oder subjektive Ungleichbehandlung, Normalitätsverstöße, Entgrenzungsbefürchtungen und Verhaltenszumutungen. Wenn von einem bedrohlichen Flüchtlingsstrom die Rede ist, wenn die Grünen angeblich den Fleischkonsum und SUVs verbieten wollen oder Transmenschen eigene Öffnungszeiten in Schwimmbädern fordern, kochen die Emotionen hoch. So lange eher theoretisch über Themen gesprochen wird, wie in den Diskussionsrunden, bleibt der Ball flach. Soll jedoch jemand sein persönliches Verhalten oder seine Ansprüche ändern, dann übernehmen Affekte die Regie und das Gespräch wird unangenehm. Leider verstehen die extremen Ränder das perfide Spiel auf dieser Klaviatur bestens. Damit kommt es aber nicht zu einer tatsächlichen Spaltung innerhalb der dominierenden Mitte, doch in der Aufmerksamkeits-Ökonomie nutzen fast alle Medien diesen Spektakel sehr gerne. Was das Gesamtbild erheblich verzerrt. Die angebliche Spaltung der Gesellschaft ist eher ein Produkt der Medien, als ein real auffindbares Phänomen.

Steffen Mau geht im Weiteren noch viel tiefer in Details. Wie unterschiedlich gesellschaftliche Fragen mal aus den unteren Schichten, mal vom kulturellen und technischen Expertentum beantwortet werden. Zwar unterschiedlich, aber nicht konträr, sondern im Rahmen der jeweils eigenen Bedürfnisse und Möglichkeiten. Interessant auch solche Subthemen wie das, ob man sich die Wahl einer Partei vorstellen kann, die nicht der eigenen Präferenz entspricht. Nur die AfD ist für alle anderen Parteianhänger nicht wählbar, doch selbst ein Grüner schließt nicht aus, unter speziellen Umständen die FDP zu wählen. Durch die breite Datenbasis und die vielen Möglichkeiten, gesellschaftliche und politische Positionen zu untersuchen, wird das Bild sehr vielfältig. Auch wenn dadurch der Umfang des Buches erheblich wächst. Am Schluss wird klar, warum Maus Buch so viel Aufmerksamkeit bekommen hat, denn es bietet einen sehr tiefen, fundierten Einblick in unsere Gesellschaft. Dabei zeigt es, dass Deutschland im Vergleich zu USA und Großbritannien sehr viel besser da steht, was Spaltung und Diskursfähigkeit angeht. Das Buch erfordert schon einiges an Konzentration und Aufmerksamkeit, doch hinterlässt es (zum Glück) ein viel besseren Bild, als das, was viele, wenn auch nicht alle Medien verbreiten.

Steffen Mau (* 31. Oktober 1968 in Rostock) ist ein deutscher Soziologe und Professor für Makrosoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Mau gehört seit 2021 zum Sachverständigenrat für Integration und Migration. […] Mau beschäftigt sich auch intensiv mit der Frage, inwieweit wir in Deutschland in einer gespaltenen Gesellschaft leben. Grund seiner empirischen Forschungsergebnisse vertritt er die Meinung, dass Deutschlands Gesellschaft nicht in dem Sinne gespalten sei, dass sich zwei Großgruppen gegenüberstünden; vielmehr finde eine Radikalisierung der Ränder des politischen Spektrums statt, wobei insbesondere der rechte Rand mit einer immer stärker über Emotionalisierung gesteuerten Politik („Affektpolitik“) bis weit in die Mitte des politischen Spektrums hineinwirken würde. Mau war 2022 bis 2023 Mitglied der Jury für den Standortwettbewerb für das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation. Im Januar 2021 wurde Mau durch die Bundesregierung in den Sachverständigenrat für Integration und Migration berufen.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Steffen Mau aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

Thomas Lux ist Makrosoziologe an der Humboldtuniversität Berlin und beschäftigt sich mit Ungleichheitsforschung, Einstellungsforschung, politischer Soziologie, Lebenslaufsoziologie, Alter und Generationen sowie Methoden der empirischen Sozialforschung. von 2011 bis 2017 war er Affiliated Fellow an der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS), der Universität Bremen/Jacobs University Bremen. Er promovierte in 2017 zum Thema „Dissecting Later-Life Employment: The Social Structure of Work after Pension Age in Germany and the United Kingdom“. Seit Oktober 2022 hat er die Vertretung der Professur Makrosoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

Linus Westheuser ist Postdoc und forscht zur politischen Soziologie sozialer Ungleichheit. Mit Steffen Mau und Thomas Lux arbeitet er derzeit an dem vierjährigen Projekt „Neue Ungleichheiten, neue Spaltungen? Eine politische Soziologie der Gegenwartsgesellschaft“. Promoviert hat er 2021 an der Scuola Normale Superiore in Florenz. Seine Arbeit war eine Mixed-Methods-Studie zum Zusammenhang von Klasse, sozialer Identität und Cleavage-Transformation in Deutschland. Sein Augenmerk galt insbesondere den Milieus, Moralökonomien und politischen Habitusformen von ProduktionsarbeiterInnen und soziokulturellen ExpertInnen – also dem politischen Verhältnis von ‚alter Arbeiterklasse‘ und ‚neuer Mittelklasse‘. 

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