Juli Zeh: Corpus Delicti
Durch ihren Roman «Über Menschen» war ich zum ersten Mal mit der Autorin Juli Zeh in Kontakt gekommen. Nach einigen schwergewichtigen Sachbüchern konnte ein Roman zwischendurch mal eine willkommene Abwechslung sein, weil mir mein erstes Buch von Juli Zeh doch sehr positiv in Erinnerung geblieben war. Erstmals 2009 erschienen, wird «Corpus Delicti» als eine Art Science Fiction beschrieben. Was meinem allgemeinen Buchgeschmack entgegen kommt. Daran stimmt zwar, dass die Geschichte in der Zukunft spielt, wenn auch nicht in einer fernen Zukunft, doch mit Science Fiktion hat der Roman wenig zu tun. Keine Raumschiffe, keine Außerirdischen und gebeamt wird auch nicht. Es geht um eine politische und gesellschaftliche Zukunft, nicht mehr ganz so fern, irgendwo im 21. Jahrhundert. Ein Deutschland, in dem die höchsten Güter Gesundheit, Hygiene und langes Leben sind. In diesem Deutschland verliert die Protagonistin, Mia Holl, ihren Bruder, der nach falscher Anklage wegen Vergewaltigung und Mord Suizid begeht. Sie glaubt nicht an seine Schuld, macht sich auf die Suche und löst eine politische Lawine aus, die sie am Ende beinahe mit ins Verderben reißt.
Dann doch wieder Science Fiction ist, dass Deutschland keine liberale Demokratie mehr ist, sondern die sogenannte „Methode“ Staatsräson. Alles wird desinfiziert und sterilisiert, die Bürgerinnen und Bürger sind verpflichtet, Sport zu treiben, müssen regelmäßig ihren Gesundheitsstatus berichten. Tabak, Alkohol, selbst Kaffee und Tee sind als toxische Substanzen verboten. Ihr Genuss wird mindestens als Vergehen, wenn nicht als Verbrechen eingestuft. Zwar gibt es noch immer Richter und Gerichte, Anwälte und Journalisten, doch der Staat ist zu einer Gesundheits-Diktatur geworden. Doch Mia hält das Urteil über ihren Bruder, das auf einer DNA-Analyse beruht, für falsch. Sie sucht nach der Wahrheit, bedroht damit die als unfehlbar geltende „Methode“, somit am Ende den Staat und seine Herrschenden selbst. Mit der Wahrheit über ihren Bruder gerät sie selbst in den Fokus der Diktatur, wird selbst zu einer angeblichen Terroristin. Überwacht, ausgenutzt und missbraucht durch einen windigen Journalisten, dessen wirkliche Rolle im Lauf der Geschichte nie ganz klar wird. Begleitet von einer unsichtbaren idealen Gefährtin, gehasst von Richtern und Staatsanwälten, denen ihre Individualität und Geistesfreiheit Angst macht. Und die sie genau so ausmerzen wollen wie ihren ähnlich geprägten Bruder Moritz.
Es geht in der Geschichte jedoch eher um Missstände in der heutigen Gesellschaft, die in eine Zukunft verlegt werden. Sowohl Missstände im Staat selbst, aber auch bei seinen Bürgerinnen und Bürgern. Sie warnt vor der zunehmenden Tendenz, alles kontrollieren und regulieren zu wollen, von der Internetzensur über das Erfassen von biometrischen Daten im Ausweis, bis zu Onlinedurchsuchungen und Rauchverbote. Wo die Sorge um Sicherheit und Vorsorge vorgeschoben wird, um die Einschränkung der bürgerlichen Freiheit zu rechtfertigen. Zeh macht auf die Gefahr aufmerksam, dass das Sicherheitsbedürfnis des Einzelnen bewusst missbraucht wird, um eine möglichst lückenlose Überwachung des Bürgers durchzusetzen. Die „Methode“ soll darauf hinweisen, dass unsere Demokratie klammheimlich von diktatorischen Elementen unterminiert werden kann, so dass sich ein Überwachungsstaat entwickelt, der seine Bürger zunehmend entmündigt und in dem Individualität unerwünscht ist. Im Gegensatz zu vielen anderen Dystopien entwickelt sich das totalitäre und repressive Potential der „Methode“ jedoch nicht aus einem offenen Machtwillen, sondern aus der vermeintlich positiven Fürsorge für die Bürger des Staates. Parallelen zum Faschismus in diesem Land sind nicht zufällig. Zu «1984» von George Orwell ebenso.
Zwar gibt es in der Geschichte einige logische Lücken und Inplausibilitäten, doch schon in diesem frühen Werk zeigt sich Juli Zeh als eine hervorragende Erzählerin. Wenn man «Corpus Delicti» als Science Fiction betrachten will, zeigt sie in diesem Roman, wie schleichend diktatorische Regime sich in einer Gesellschaft ausbreiten können, wie der „gesunde Menschenverstand“ zu einer Abschaffung der Demokratie und Liberalität mutieren kann. In diesem Sinne ist das Buch ein Weckruf, dem Regulierungswillen des Staates entgegen zu treten. So lange dazu noch Gelegenheit ist.
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