Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung
Manchmal gibt es Zufälle, die keine wirklichen Zufälle sind. Dieser Zufall war die Bestellung zweier Bücher in meiner örtlichen Buchhandlung. Beide zusammen führten am Ende zu einem anderen eigenen Bild der west-ost-deutschen Befindlichkeit. Das erste geschrieben von einem Westdeutschen 1990 bis 1991 in Dresden, das andere von einem Ostdeutschen in Ostdeutschland 2023. Ich habe als Untertitel „Eine Streitschrift“ gewählt. Denn der Text ist in der Tat zornig, doch Streit sucht der Autor nicht. Dirk Oschmann hatte in der FAZ einen Gastbeitrag geschrieben, dass der Westen sich einen Osten nach eigenem Gutdünken zusammen erfindet. Wonach der Osten immer rückständig, unflexibel, faul, demokratieunfähig und undankbar ist. Während Bayern und Rheinländer stolz auf ihren Dialekt sind, gilt Sächsisch als komisch bis nervig. Der Westen sei eben das „Normale“, der Osten die Ausnahme. Weshalb der Westen sagen müsse, wo es lang geht und was das Beste für den Osten sei. Diese Sicht ist keine Ausnahme, viele Bücher und Studien, auch eben «Das letzte Jahr» von Martin Gross zeigt, wie der Westen den Osten übernahm. Als Erstes kamen der Einzelhandel und die Baumärkte, dann die westlichen Köpfe der Verwaltungen, der Politik und der Hochschulen. Wie es so schön heißt, der Westen wollte den Osten für den Umsatz und die Gewinne, als billiges Produktionsgebiet bei niedrigen Löhnen. Die Menschen waren nicht erwünscht. Aber was ist das nun eigentlich genauer, „der Osten“?
Noch immer heißen sie die neuen Bundesländer, obwohl inzwischen eine ganze Generation vergangen ist. Wer meinte, es würde alles mal zusammen wachsen, muss nach über 30 Jahren feststellen, dass nichts dergleichen geschah. Für viele Leute aus der alten BRD ist „der Osten“ noch immer beinahe No-Go-Area. 17% der Westdeutschen waren noch nie dort. Überhaupt sei die alte BRD das richtige Deutschland, die DDR nur beigetreten. Klagen der Jammer-Ossis mal wieder? Nein, Oschmann kann das mit Daten, Zahlen und Fakten belegen. Dazu mit Zitaten aus Medien, Erfahrungen aus eigenem Alltag, als einer der ganz wenigen Ostdeutschen in hoher Position an einer ostdeutschen Universität. Schaut man in die Führungsetagen von Unternehmen, Politik und Hochschulen, sind dort Menschen gebürtig aus Sachsen oder Thüringen praktisch nicht zu finden. Kein bedeutendes Industrieunternehmen hat seinen Sitz in Brandenburg oder Sachsen-Anhalt. Der Blick des Westens auf den Osten ist immer von oben herab. Geprägt von durchweg negativen Beurteilungen. Am schlimmsten ist es natürlich im östlichsten Osten des Ostens, in Dresden und Sachsen. Im Tal der Ahnungslosen.
Mit Daten und Fakten kann Oschmann klar belegen, dass an den Zuschreibungen an die Menschen in Ostdeutschland nichts Wahres dran ist. Die Ostdeutschen seien alle Nazis und demokratieunfähig? Nicht nur der Handel marschierte ab 1990 im Osten auf, auch für Neonazis war die Übernahme des Ostens erklärtes Ziel. Die tiefbraunen Köpfe der AfD kamen aus Lünen, München, Aachen und Baden-Württemberg. So demokratieunfähig sind die Menschen im Osten, dass sie gewaltlos gegen ein mörderisches und brutales Regime Freiheit und Demokratie durchgesetzt haben. Selbst im Sport geht es so weiter. Die DDR sei nur mit massivem Doping so erfolgreich gewesen. Als wenn in der BRD nicht tonnenweise Anabolika und Steroide verbraucht worden wären. Sonst wäre die zentrale Doping-Forschung an der Sport-Uni Köln auch überflüssig gewesen. Oschmann gelingt so eine andere Version von Ost und West. Dass sich nämlich der Westen einen Osten zusammen erfindet, ohne dass dieses Bild einer objektiven Betrachtung standhält. Sehr krass eben an den komplett unausgewogenen Machtansprüchen und Herrschaftssystemen zu erkennen. Sich dann darauf zurück zu ziehen, im Alltag wäre doch alles bestens, und Ossis und Wessis würden sich in Weimar keine Straßenschlachten liefern, geht an den wirklichen Fragen vorbei. Wie an denen nach Vermögen, Erbe, Einkommen in einem Staat, der private Kapitalbildung verbot. Wenn die Menschen aus Sachsen im Urlaub an die Ostsee fahren, statt wie die Hamburger ins Flugzeug zu steigen, kann das schlicht an den Löhnen liegen. Die im Osten noch immer über 22% unter Westniveau liegen.
Dirk Oschmann hat für seinen Artikel in der FAZ viel Lob bekommen. Doch auch harsche Kritik. Seltsam nur, dass die Kritiker sich nicht auf Fakten bezogen, sondern nur darauf, Oschmann zu diskreditieren, herabzuwürdigen und zu beleidigen. Solche Abläufe kennen wir aus dem Alltag, gehen die Argumente aus, geht man zur Aggression über. Oschmann hat mit seiner Kritik an der Herrschaft des Westens über den Osten recht. Und er kann das beweisen. So lange der Osten als quasi minderwertiges Deutschland gilt, so lange wird keine Ruhe einkehren. Das ist kein deutsches Phänomen, wir kennen es auch in Großbritannien, hier der reiche Süden mit seinem Queen’s English, oben der arme, minderbemittelte Norden, mit seiner seltsamen Sprache. In den USA die reichen Küsten gegen die Fly-Over-States. In Italien der zivilisierte Norden gegen die armen Pizza-Bäcker am unteren Ende des Stiefels. Aber, so Oschmann, haben wir bisher die historische Chance vertan, ein demokratisch ausbalanciertes und gerechtes Deutschland zu bauen. Die Initiative dazu muss aus der westdeutschen Politik und Industrie kommen. Dazu gehört zuerst die Entsorgung des verzerrten und schiefen Bildes des Westens vom Osten. So. Und ich fahre in der nächsten Woche mal wieder ins Erzgebirge. Lecker essen, schöne Strecken durch tiefe Wälder wandern. Bei freundlichen und höflichen Menschen. Wo es noch kleine Handwerks-Bäckereien gibt, ohne Industriepampe und Enzyme im Brötchen. Und Nudossi zum Frühstück.
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