Richard David Precht: Erkenne dich selbst
Band zwei der Philosophiegeschichte des Richard David Precht, nach der Bewältigung des ersten Bandes. Es war wohl nicht ganz einfach, die jeweiligen Zeitpunkte der beiden Bände festzulegen. Precht nennt als Zeitraum des zweiten Bandes Renaissance bis zum deutschen Idealismus. Konkret setzt die Geschichte ungefähr bei 1420 ein, mit einem Bild und einem Maler, von dem aus Precht die weitere Entwicklung aufspannt. Näher betrachtet werden Cusanus, Ramon Llull, Lorenzo Valla, in weiteren Blicken die vorherrschenden Medici und Niccolò Machiavelli. Obwohl historisch wichtig, ist hier eine kleine Durststrecke zu bewältigen, bevor es wieder näher an unsere heutigen Interessen geht: Erasmus von Rotterdam, Martin Luther, die Wege der Reformation und dazu parallel Nikolaus Kopernikus. Die Geschichte der religiösen Bewegungen schildert Precht hier anders als das, was wir aus Schulbüchern und vielen Medien kennen. Dass Luther eher ein im mittelalterlichen Denken verhafteter Besserwisser war als ein Revolutionär. Diese Sicht der Reformation in Europa und deren Konsequenzen waren für mich neu. Prechts Bewertung scheint jedoch durchaus logisch und plausibel. Wie er überhaupt an vielen Stellen mit den üblichen Sichtweisen hart aufräumt. So ist gerade in diesem zweiten Band so manche Kröte zu schlucken.
Nach den Reformbewegungen im Zentrum Europas geht es wieder zurück nach Italien, ein größerer Abschnitt gehört Giordano Bruno mit Abstechern zu Galileo Galilei. Mit dem Dreißigjährigen Krieg endet die Renaissance, es folgt der Barock mit René Descartes, Spinoza und sehr ausführlich der letzte Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz. Es geht jetzt wieder tiefer und detaillierter in die Philosophie, aber auch die Entwicklungen in der Naturwissenschaft und Technik kommen nicht zu kurz. Dabei wird mit den unterschiedlichen Betrachtungsweisen der Titel des jeweiligen Bandes die philosophische klarer. Ging es in der Philosophie bis zum Mittelalter noch um den Versuch des Erkennens der äußeren Welt, betrachten nun die Philosophen mehr, wie sich die Welt im Inneren des Menschen darstellt. Mit Thomas Hobbes und John Locke bekommt nun Großbritannien den Fokus, wobei Locke einmal als Ökonom als auch als Initiator der Erkenntnistheorie viel Raum einnimmt. Hier spürt man schlussendlich im 18. Jahrhundert die Annäherung an die Neuzeit, die Themen werden greifbarer und für uns in der Neuzeit nachvollziehbarer. Die Philosophie kommt wieder mehr in den Vordergrund.
Dass die Stadt Berkeley mit ihrer berühmten Universität nach einem irischen Philosophen benannt ist, war mir neu. Dabei beruht das nur auf einem Gedicht des Begründers der Subjektphilosophie. Weiter mit Hume, der als Historiker berühmt wurde, weniger als Philosoph, obwohl seine Gedanken im Grunde die weiteren Entwicklungen voraus nehmen. Ein Wechsel auf die andere Seite des Kanals bringt uns zu Jean-Jacques Rousseau, Diderot, aber auch zu Helvétius und zu Lessing. Mit der Mitte des 18. Jahrhunderts wechselt Precht zum deutschen Idealismus. Der erste große Abschnitt gehört dem leuchtenden Namen der deutschen Philosophie, Immanuel Kant und seine wichtigsten Werken Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft und Kritik der Urteilskraft. Precht nähert sich Kant nicht, ohne dessen Schwächen und Irrungen zu berücksichtigen. Diese Zeit ist geprägt durch die französische Revolution bis 1799, an die sich die Epoche der Romantik anschließt. Es folgen Fichte, Schelling und am Ende Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der wohl umfangreichste Abschnitt in diesem Überkapitel. Das Buch schließt mit einem Cliffhanger, der Hinweis auf Arthur Schopenhauer.
Diesen zweiten Band von Prechts Geschichte fand ich deutlich abwechslungsreicher und interessanter als den ersten. Aber nicht unbedingt leichter zu lesen, im Gegenteil. Mal so eine Seite quer lesen geht bei Precht gar nicht. Einmal, weil es detaillierter in die Geschichte der Philosophie geht, auch wenn die Themen und Denkmethoden näher an unserer heutigen Denkweise liegen. Andererseits nähert sich Precht weiteren Sparten der Philosophie zu, von der Transzendentalphilosophie bis zur Kunstphilosophie. Da muss man manche Sätze schon zwei Mal lesen. Wie bereits Philosophen im 18. Jahrhundert viele aktuelle Fragen vorgedacht haben, hat mich verblüfft. Zudem gelingt Precht hier eine ausgeglichenere Themensetzung zwischen Philosophie, Geschichte, Politik und Wirtschaft. Wieder im Vergleich zum ersten Band rückt die Geschichte etwas in den Hintergrund, die Philosophie nach vorn und die nun entstehende kapitalistische Wirtschaft in England mit ihrer Bedeutung für Moral und Ethik kommt hinzu. Die aber in Preußen noch lange nicht ankommen wird.
Zum Zuge kommen unterschiedliche philosophische Richtungen, vorrangig Moralphilosophie, Erkenntnistheorie, aber auch Aspekte der Metaphysik. Bisher ist für mich der zweite Band der deutlich lesenswertere. Muss man den ersten Band gelesen haben, um im zweiten zurecht zu kommen? Nicht unbedingt, obwohl der erste Band die späteren Grundlagen legt und Rückbezüge ermöglicht. Was die philosophische Entwicklung im 18. und teilweise 19. Jahrhundert angeht, wie weit sie sich bis heute auswirkt, wird auch ohne den ersten Band klar. Vielleicht ist der zweite Band tatsächlich der lesenswertere. Weil aktuelle Fragen dort ein erstes Fundament bekommen. Vielleicht unvermeidbar sind die zeitlichen Sprünge, die Precht unternimmt, wie am Beispiel Fichte, der erst nach dem Kapitel Kant kommt, obwohl er Zeitgenosse Kants war. Das ist dann aber schon mäkeln auf hohem Niveau. Denn wie immer schreibt Precht verständlich, praxisnah und ohne Schwurbelei. Ein Brocken von Buch, aber sehr lesenswert, wenn man in die Grundlagen der Philosophie einsteigen möchte.
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