Jean-Pierre Wils: Der Große Riss

Als Ende März 2020 der erste Lockdown wegen der Covid-19-Pandemie in Kraft trat, war es für einige Menschen beinahe eine Erleichterung. Nämlich für die Leute, die sich von der Schnelllebigkeit und dem Rummel in der westlichen Zivilisation eh überfordert fühlten. Andere Leute verfielen in Sorge um ihr Leben in Panik, trauten sich nicht mehr aus dem Haus. Das Bunkern von Klopapier, Mehl und Nudeln wurde zum Volkssport. Eine weitere Gruppe sah in dem zur Verhängung des Lockdowns am 16. März 2020 notwendigen Parlamentsbeschlusses eine Wiederholung des Ermächtigungsgesetzes, mit dem sich die junge Weimarer Republik quasi selbst entmachtete. Spätestens seit dem Sommer 2020 kursierten die wildesten Verschwörungserzählungen, mal war Bill Gates der böse Bube, mal für die Rechtsextremen die jüdischen Globalisten. Die Corona-Krise hat uns vor Augen geführt, wie vulnerabel und instabil unsere Wirtschaft und Gesellschaft tatsächlich sind, wie viele in der jüngeren Vergangenheit falsche Entwicklungen waren. Nun, da aus der Pandemie eine Endemie geworden ist, sollte eigentlich das Leben wieder wie gewohnt weiter gehen. Von den aktuellen Krisen abgesehen. Das Gegenteil ist der Fall. Aus den letzten Jahren sind Querdenker und Verschwörungsgläubige übrig geblieben und suchen sich neue Themen. Dazu zeigt sich eine zunehmende Skepsis gegenüber dem demokratischen Staat und besonders seinen Institutionen. Die Mitte-Studie 2022/23 der Friederich-Ebert-Stiftung zeigt beunruhigende Tendenzen in der deutschen Gesellschaft. Jean-Pierre Wils widmet sich in seinem Essay der Frage, was seit der Pandemie passiert ist, was dazu unsere politische Kultur so verändert hat. Wenig überraschend zeigt er auf, dass dahinter viel ältere Entwicklungen zu finden sind.

Selbst ein weiteres Symptom, nur ein im Suez-Kanal steckengebliebenes Containerschiff, ließ Lieferketten weltweit zusammenbrechen. Und obwohl die Corona-Krise ein wichtiger Wecker hätte sein müssen, machen wir unbeirrt weiter wie bisher. Wils nähert sich sich dieser Geschichte einmal von der Seite her zu analysieren, was die maßgebenden Entwicklungen der Neuzeit waren. Die hemmungslose und geradezu gedankenlose Globalisierung, die Verlagerung gesellschaftlicher Güter zu Profitzentren im Sinne des Neoliberalismus, die Unfähigkeit zur Wahrnehmung der Zeit, während der Raum inzwischen bis zu Flügen zum Mars ausgedehnt wird. Diese Fehlwahrnehmung der Zeit treibt uns in die nächste Krise, weil wir die Auswirkungen des Klimawandels einfach abtun. Doch die letzten Jahrzehnte haben nicht nur diese ökologischen und ökonomischen Schieflagen bedingt, das gesellschaftliche Leben hat ganz neue Vorstellungen und Bedürfnisse entwickelt. Freiheit wird als schrankenloses Ausleben des privaten Tuns und Lassens verstanden. Jede Regulierung wird zum persönlichen Angriff. Der vielleicht größte Einflussfaktor, die Digitalisierung der Kommunikation mit seinen Filterblasen in den sozialen Medien, war im ganzen Spiel ein wichtiger Mitspieler. Die herkömmlichen Medien waren keine wirkliche Hilfe, sondern befeuerten noch so manchen Unsinn. Wils widmet sich aus vielen Blickwinkeln und philosophisch der Gegenwart und ihrer Entwicklungslinien. Dass er dabei manchmal ganz tief in Fragen abtaucht, ist gute Absicht, erschwert jedoch das Lesen an vielen Stellen.

Nun ist ein Essay keine wissenschaftliche Arbeit, noch erfordert es wissenschaftliche Exaktheit. Wils fasst stattdessen viele frühere Arbeiten und Erkenntnisse anderer Autoren zusammen, um ein ganzheitliches Bild zu erhalten. Nämlich das, warum unsere Gesellschaft und Politik gerade so vor sich hin bröselt, warum wir nicht in der Lage sind, die doch von Corona so deutlich gezeigten Fehlschritte zu korrigieren. Dabei immer deutlichere wirtschaftlichen und sozialen Schieflagen aus dem Blick schieben. Wo doch Corona diese so prominent gemacht hat. Getrübt wird dieses Bild leider durch die Verliebtheit Wils‘ in philosophische Details, hier wäre weniger mehr gewesen. Auch bei seinen Empfehlungen, wo wir umsteuern müssen, ufert er etwas aus. Im Kern sind das eine Rückkehr zur regionalen Resilienz, wo Grundbedürfnisse zur Not immer im Lokalen befriedigt werden können, die Bereitschaft zum Verzicht, anstatt das Bestehende immer nur grün anzupinseln sowie das Verlassen neoliberaler Ideologien, die Einzelbedürfnisse Weniger über die Grundbedürfnisse Vieler stellen. Diese Erkenntnisse sind im Grunde nicht neu oder überraschend. Der Wert des Buches liegt deshalb in der Detailliertheit und Breite von Wils‘ Betrachtungen, die eben sehr viele andere Ansichten mitnehmen. Ein nicht ganz einfach zu lesendes Buch, das aber durch die vielen Zitate vom Altertum bis zur nahen Gegenwart ein sehr vollständiges Bild liefert.

Jean-Pierre Wils (* 1957 in Geel) ist ein belgischer Hochschullehrer, Philosoph, Medizinethiker und Theologe, der 2009 aus der römisch-katholischen Kirche austrat. Er ist Professor an der Radboud-Universität Nijmegen und lebt in Deutschland. Wils studierte Philosophie und katholische Theologie in Löwen und Tübingen, wo er 1987 in Theologie promovierte und 1990 seine Habilitation erfolgte. Von 1990 bis 1995 war er Werner-Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Er lehrte als Professor in Tübingen, Ulm und Freiburg und seit 1996 in Nijmegen. Neben seiner Funktion als Ordinarius für „theologische Ethik“ an der Fakultät der Theologie und als Ordinarius für „Kulturtheorie der Moral unter besonderer Berücksichtigung der Religion“ an der Fakultät der Religionswissenschaften der Radboud-Universität Nijmegen war er bis 2006 wissenschaftlicher Direktor des Interdisziplinären Ethikzentrums. Er veröffentlichte mehrere Bücher sowie zahlreiche Aufsätze zur theologischen und philosophischen Ethik.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Jean-Pierre Wils aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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  1. […] größte Krise, den Klimawandel, blendet die Mehrheit eh aus zeitlichen Gründen aus, wie schon Jean-Pierre Wils anschaulich dargestellt hat. Diese Themen arbeitet er in mehreren Kapiteln ab, wie die folgenlose […]

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