Stephan Lessenich: Nicht mehr normal

„Deutschland. Aber normal.“ war eine Wahlparole der AfD in der letzten Bundestagswahl. Was die AfD unter „normal“ versteht, ist klar. Eine normale Familie besteht für sie aus Vater, Mutter und Kindern, ein normaler Mann findet nur Frauen sexuell attraktiv, normal ist es, wenn der Titel Doktor selbstverständlich auch Doktorinnen einschließt. Dabei ist der Begriff der Normalität spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts schwer ins Wanken geraten. Eine Norm, von diesem Begriff leitet sich Normalität ab, ist eine willkürliche Definition oder Festlegung, die irgendwann irgendjemand irgendwo mal gemacht hat. Doch für die meisten Menschen heißt normal nur, was die breite Mehrheit richtig, schön oder gut findet. Also genau diese Menschen. Stephan Lessenich hat als Soziologe eine andere Sicht der Dinge. Deshalb widmet er sich in diesem Buch nicht der Frage, was denn nun normal sein soll, sondern warum und wie eigentlich gar nichts mehr normal ist. Mehrere Faktoren haben Normalität inzwischen in Frage gestellt. Minderheiten wie Schwule oder schwarze Deutsche wollen die Zonen der Unsichtbarkeit verlassen, fordern ihren Anteil an sozialer Teilhabe ein. Seit vielen Jahrzehnten fanden es vorwiegend Männer schick, mit dem Auto mit Höchstgeschwindigkeit über bundesdeutsche Autobahnen zu rasen. Der Klimawandel stellt dieses angebliche Recht inzwischen in Frage. Das Aasen mit fossiler Energie hat spätestens ein Ende, nachdem der Möchtegern-Zar in der russischen Hauptstadt kein Öl und Gas mehr liefern darf. Ganz zu schweigen davon, was Corona mit der angeblichen Normalität angestellt hat. Normal ist also so gut wie nichts mehr. Dem Warum geht Stephan Lessenich nach.

Stephan LessenichNicht mehr normal

Nur eines ist sicher: Die Normalität der früheren Jahre wird nicht mehr zurück kommen. Dazu geht Lessenich nicht auf Auswege oder Lösungen ein, sondern vollzieht die wichtigen Veränderungen der letzten Jahrzehnte nach. Er bezeichnet zurecht das 21. Jahrhundert als eine Abfolge von Krisen. Angefangen mit dem Finanzcrash 2007/2008, der massiven Einwanderung in 2015, Corona ab 2020 bis hin zum Ukrainekrieg ab 2022. Die wahrscheinlich größte Krise, den Klimawandel, blendet die Mehrheit eh aus zeitlichen Gründen aus, wie schon Jean-Pierre Wils anschaulich dargestellt hat. Diese Themen arbeitet er in mehreren Kapiteln ab, wie die folgenlose Folgenlosigkeit der Finanzkrise, fossile Mentalitäten oder Deutschland als Einwanderungsland. Das in Form eines Essays, jedoch jeweils nicht ohne eine sozialwissenschaftliche  oder politische Einordung. Dabei dürfen historische Entwicklungen nicht fehlen. So entsteht wie in einem Mosaik ein Bild über eine Welt, die aus den Fugen geraten ist, in der lange gewohnte Einstellungen, Ansichten und Sichtweisen keinen Bestand haben. Interessanterweise gerät er in einem Kapitel ins Schlingern, nämlich über Identitätspolitik. Den Spagat, Verfechtern einer weitreichenden Diversität und einer zahlenmäßig größeren Gruppe von Konservativen eine Brücke zu bauen, schafft er nicht. Da hilft es wenig, die alten weißen Männer aus dem Keller zu holen, die noch immer Wirtschaft und Politik maßgeblich beherrschen.

Trotz dieser leichten Schwäche stellt er sehr anschaulich und verständlich dar, warum nicht nur in den westlichen Ländern eine Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs entstanden ist. Verheimlicht jedoch nicht, dass es keine irgendwie geartete Lösung gibt, die die massiven gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Brüche heilt. Also kein Buch über mögliche Lösungen. Sondern eine Darstellung des Ist-Zustandes und seiner Herkunft, bei dem eine Rückkehr in den Status-Quo-Ante verwehrt bleibt. Auch wenn eine erkleckliche Zahl an Menschen das gerne hätte. Eher im Sinne des Spruches „Lächle, denn es könnte schlimmer kommen. Ich lächelte, und es kam schlimmer.“ Die vielleicht größte Krise, deren Auswirkungen wir heute noch nicht abschätzen können, wenn ganze Inselgruppen und Städte versinken, massives Artensterben einsetzt, es in Deutschland wochenlang schüttet oder brütet, wird (noch) ignoriert. Aus dieser Sicht war die Migrationswelle in 2015 ein Kinderspiel. Dieser Gesamtzusammenhang der Krisen ist Kern des Buches. Von einigen Argumentationsschwächen abgesehen, schafft das Lessenich wirklich gut.

Stephan Lessenich (* 1965 in Stuttgart) ist ein deutscher Soziologe und Politiker (mut). Er war von 2013 bis 2017 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und ist seit 2021 Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Lessenich studierte in den Jahren 1983 bis 1989 Politikwissenschaft, Soziologie sowie Geschichte an der Philipps-Universität Marburg. 1993 erfolgte seine Promotion an der Universität Bremen. Er war von 1999 bis 2001 Habilitationsstipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und habilitierte sich 2002 an der Universität Göttingen, wo er die Venia legendi im Fach Soziologie erhielt. Ab 2004 war er Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Vergleichende Gesellschafts- und Kulturanalyse an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und dortiger Direktor, gemeinsam mit Klaus Dörre und Hartmut Rosa, der DFG-Kollegforschergruppe „Postwachstumsgesellschaften“ am Institut für Soziologie. Zum Wintersemester 2014/2015 wurde er als ordentlicher Professor auf den Lehrstuhl für Soziale Entwicklungen und Strukturen, Nachfolge Ulrich Becks, an das Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München berufen. Seine Arbeitsgebiete sind die politische Soziologie sozialer Ungleichheit, vergleichende Makrosoziologie, Wohlfahrtsstaatsforschung, Kapitalismustheorie und Alterssoziologie. Im Juni 2017 war er an der Gründung der Partei mut beteiligt und wurde einer ihrer Gründungsvorsitzenden. Er war einer der Spitzenkandidaten der Partei bei der Landtagswahl in Bayern 2018. Am 1. April 2021 informierte die Goethe-Universität, dass Stephan Lessenich zum 1. Juli 2021 Direktor des Instituts für Sozialforschung und Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung in Frankfurt wird. Für 2021 wurde Lessenich gemeinsam mit Klaus Dörre und Hartmut Rosa der Thüringer Forschungspreis in der Kategorie Grundlagenforschung zugesprochen.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Stephan Lessenich aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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