Benjamin Lahusen: Der Dienstbetrieb ist nicht gestört

Wen könnte dieses Thema interessieren, außer vielleicht Juristen? Wenn man Bücher bei der Bundeszentrale für politische Bildung ordert, kann man sicher sein, dass der Inhalt von allgemeinem Interesse ist. Dass das auch hier der Fall ist und um welches Oberthema es sich dreht, macht der Autor Benjamin Lahusen schon unterhaltsam in der Einleitung klar. Da sitzt ein Referendar der Gesetzeskunde in einem Gerichtssaal bei einem Fall des Privatrechts. Kurz bevor er droht einzuschlafen, blättert er in einem Fachbuch und stößt auf einen Begriff: das Justitium. Dahinter verbirgt sich der Fall, wenn in einem Staat die Rechtspflege still steht. Im alten Rom bezeichnete „iustitium“ sogar den Stillstand des gesamten öffentlichen Lebens, zum Beispiel in der Trauerzeit nach dem Tod des Staatsoberhauptes. So fragt er sich, ob in Deutschland in der Endphase des zweiten Weltkrieges, dem von Goebbels ausgerufenen totalen Krieg, oder nach dem Ende des Krieges und dem Ende des deutschen Reiches es einen Stillstand der Rechtspflege gab. Fast zehn Jahre, ausgebremst von der Corona-Pandemie, forscht er zum Thema, der Rechtspflege in Deutschland von 1943 bis in die Fünfziger. Erstaunlich wenig trocken wird das Thema. Dazu aus unserer heutigen Sicht mit erstaunlichen Vorgängen und Geschehnissen.

Benjamin LahusenDer Dienstbetrieb ist nicht gestört

Natürlich ist das Buch keine juristische Betrachtung von Gesetzen und der Justiz an sich. Lahusen beschreibt in den einzelnen Kapiteln, wie die Rechtspflege in Deutschland in dieser Zeit ab 1943 verlief. Jedes Kapitel gilt der Rechtspflege in einer Gegend, was während des Krieges dort ablief. Im konstruierten Neustadt am Wassersturz, real im Amtsgericht Ausschwitz, über die Grundbücher der IG Farben, über das Sondergericht Aachen und seinen letzten Richter, wie Gerichtsbehörden mit der Flächenbombardierung der Alliierten ab 1942 durch die Gegend zogen. Weil die Gerichtsgebäude zerstört waren. Das einzige Mal, dass es tatsächlich zu einem Justitium kommen konnte, war das Ende des Krieges und die Besetzung durch Franzosen, Engländer, Amerikaner und Sowjets. In der Tat waren zwar einzelne Gerichte vorübergehend geschlossen, doch nie alle zusammen. Ab 1952 ging es dann quasi normal weiter. Die Richter und Anwälte standen mit dem Ende des Dritten Reiches vor erheblichen Problemen. Das Dritte Reich hatte sich nur wenig in die grundlegenden Gesetze eingeschrieben, das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 war praktisch unverändert. Die vielen spezifischen Regelungen, die Einrichtung des Volksgerichtshofes und der Sondergerichte, waren durch einzelne Gesetze und Verordnungen getroffen. Aber in denen war häufig auch festgelegt, dass sie nur während des Krieges gelten sollten. Aber wann war der Krieg zu Ende? Am 9. Mai 1945 mit der Kapitulation, oder erst mit dem Waffenstillstand, oder gar erst mit einem zukünftigen Friedensvertrag? Der kam ja erst 1990. Eine Stunde Null hat es nie gegeben. Es ist also keineswegs knochentrockene Theorie, was Lahusen ausbreitet. Es sind reale Geschichten um reale Personen und von ihrem Kampf um ihre Sicht der Justiz.

So übel diese Zeit während der Nazi-Herrschaft war, hat sie auch durchaus beruhigende Aspekte gehabt. Es hat seit dem Kaiserreich im 19. Jahrhundert in Deutschland nie einen Stillstand der Rechtspflege gegeben. Wenn eines verlässlich und stabilisierend war, war es die Unabhängigkeit der Justiz in großen Teilen. Allerdings ist auch richtig, dass seit dem Ende der Nazi-Herrschaft nach und nach Nationalsozialisten zurück in Ämter und Würden kamen, weil das Personal, nun im Frieden, gebraucht wurde. Da war Westdeutschland jedoch noch deutlich stringenter als Ostdeutschland. Man kann sich über den Amtsschimmel mit seiner Liebe zu Akten und Grundbüchern lustig machen, kann das penible Beharren auf Gesetzen und Verordnungen lästig finden. Lahusen zeigt jedoch auch, dass die deutsche Justiz schon lange vor der Neuzeit eine erstaunliche Stabilität und Präzision bewiesen hat. Man mag das Starrsinn nennen, oder eben Unbeirrbarkeit. Des Buch leistet einen Einblick in ein nicht alltägliches Thema, aber es hilft auch ein wenig zu verstehen, wie dieser Staat, und die Staaten davor, funktionieren. Warum eine vom Staat unabhängige Justiz ein Schutz der Demokratie ist. Denn selbst in den Wirren der Nazi-Diktatur versuchte sie, wenigstens in ihrem eigenen Verantwortungsbereich für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Wenn man so will, also ein tröstliches Buch. Noch dazu unterhaltsam und lesenswert geschrieben.

Benjamin Lahusen (* 1979 in Stuttgart) ist ein deutscher Rechtswissenschaftler. Lahusen studierte an den Universitäten Tübingen, Lausanne, Berlin (HU) und New York (Columbia) Rechtswissenschaft. Nach dem ersten Staatsexamen war er drei Jahre Doktorand am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main. Anschließend wurde er am Berliner Kammergericht zum Volljuristen ausgebildet und arbeitete fünf Jahre lang als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Rostock. Von 2015 bis 2020 war er Nachwuchsgruppenleiter an der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2020 leitet er die Geschäftsstelle der Beratenden Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts, insbesondere aus jüdischem Besitz. Seit dem Wintersemester 2021/22 lehrt er als Professor für Bürgerliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte an der Viadrina in Frankfurt/Oder. Seine Forschungsgebiete sind Rechtsgeschichte und Rechtstheorie der Neuzeit.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Benjamin Lahusen aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert