Bernd Stegemann: Die Öffentlichkeit und ihre Feinde
Das Buch über den Sound des Jahrhunderts hat mich doch sehr lange beschäftigt, bis ich zu diesem Buch kam. Noch etwas befeuert von einer Sendung mit Bernd Stegemann in WDR 5. Nun ist Stegemann nicht gerade ein Zeitgenosse, den man politisch so einfach verorten könnte. Gilt als linksliberal, scheut aber auch nicht vor Kritik am linken Spektrum zurück. Dazu ist er weder Philosoph noch Soziologe oder Psychologe. Sondern in der Hauptsache Dramaturg. So bewegt sich „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ eher auf der Ebene eines frei flottierenden Essays, als es wissenschaftliche Betrachtung oder Analyse ist, geschweige denn Sachinformation. Es beginnt mit der Frage, was denn Öffentlichkeit überhaupt ist. Geht man in die Siebziger oder Achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück, war Öffentlichkeit im Wesentlichen das, was von Medien wie Zeitungen und Rundfunk verbreitet wurde. Mit den technologischen Veränderungen im 21. Jahrhundert hat sich der Begriff Öffentlichkeit gewandelt, Sender und Empfänger sind nicht mehr klar unterscheidbar. Dafür ist Öffentlichkeit nun geprägt von Auseinandersetzungen, Streit und Beschimpfungen, bis hin zu Beleidigungen, Hass und Hetze. Diese Entwicklungen nur den Sozialen Medien in die Schuhe zu schieben, greift jedoch zu kurz. Die zunehmende Spaltung der Öffentlichkeit, die Betonung von Identitätsfragen und Gruppenzuordnungen hat, so Stegemann, seine Wurzeln zuerst an anderer Stelle. Und zeigt sie noch woanders, nämlich in den Veränderungen der Gesellschaft in neue Schichten. Denn der eigentliche Verantwortliche sei der Neoliberalismus. Als schleichendes Gift mit weitreichenden Folgen.
Trotz seiner formalen Ungebundenheit als Essay konzentriert sich Stegemann auf die drei Eckpunkte Öffentlichkeit, Neoliberalismus und Ökologie. Bestimmte Gruppen hatten schon immer eigene geschlossene Öffentlichkeiten, im Gegensatz zu den offenen Öffentlichkeiten von Radio, Fernsehen und Zeitungen. Aus systemtheoretischer Sicht interessiert sich Stegemann für die Schnittstellen zwischen diesen Systemen und für die Entwicklungen der Interaktion zwischen ihnen. Um zum Schluss zu kommen, dass die Schnittstellen immer schmaler werden, sich der Austausch zwischen den Interessengruppen der Öffentlichkeit mehr und stärker reduziert. Befeuert werden diese Entwicklungen von rechter populistischer Seite durch eine scharfe Abgrenzung zwischen Freund und Feind, von linker Seite von einer immer mehr betonten Identitätspolitik. Welche meint, dass die Nichtzugehörigkeit zu einer klar definierten Minderheit die Erlaubnis erzieht, über deren Themen nur zu reden. Es geht also auch um Identität, Cancel Culture, Angst-Kommunikation und die Verschiebung von Kommunikation von intim zu öffentlich: „How dare you …“. Die wesentliche Ursache dieser Atomisierung der Öffentlichkeit sieht Stegemann im Neoliberalismus.
Der Neoliberalismus habe etwas geschafft, woran der antike Kapitalismus gescheitert sei. Brauchte der Kapitalismus alter Prägung noch Macht und Zwang, um seine Zuträger als Arbeiter und Ingenieure unter die Fuchtel zu bekommen, habe sich der Neoliberalismus eine neue Basis geschaffen. Menschen, die permanent nach Selbstoptimierung, immer mehr Konsum und Anerkennung streben. Die in entgrenzten Märkten, enthemmter Globalisierung und Wurzellosigkeit bestens zurecht kommen. So wurde die Gesellschaft umgebaut. In eine dünne Oberschicht, eine neue Mittelschicht, die den Liberalismus als neue Ideologie schätzt, eine alte Mittelschicht, die ständig ihren Absturz und Untergang fürchtet und ein breites Prekariat mit Niedriglöhnen und wenig Zukunft. Bei weltweit externalisierten Kosten. Diesem Zerriss folgte auch das, was als Öffentlichkeit begriffen wurde. Eine Zergliederung, in der nur noch partikulare Interessen und die eigene Anerkennung im Vordergrund stehen. Doch der größte Verlierer sei, so Stegemann, die Ökologie, die vom Neoliberalismus gar nicht mehr begriffen wird, weil ihre Transzendenz nicht in das Bild globalisierter Märkte passt. So entsteht in diesem Dreiklang zerlegte Öffentlichkeit, Neoliberalismus und Ökologie ein Universum von Widersprüchen und blinden Flecken.
Von dem System These, Antithese und Synthese befreit, packt Bernd Stegemann im Grunde alle aktuellen Probleme und offenen Fragen zusammen. Darin den Überblick zu behalten fällt nicht immer leicht. Man kann Stegemann nicht viele wichtige Fragen und Beobachtungen absprechen, doch er belässt es bei der weitläufigen Betrachtung. Die gelegentlich übers Ziel hinausschießt und in eine gelinde Besserwisserei führt, ohne eine Richtung aufzuzeigen, was denn zu tun sei. Wenn man kritisiert, sollte man Alternativen aufzeigen können, oder wenigstens eine Vision parat haben. An dieser Stelle bleibt Stegemann vieles schuldig. Trotzdem ist das Buch nicht überflüssig, vermittelt es dem Leser doch Hinweise, wie manche als separat betrachtete Entwicklungen im Kern auf gleiche Ursachen zurück gehen. Den Rest muss der Leser eben selbst erledigen.
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