Jürgen Wiebicke: Sieben Heringe

Das Attribut ‚berührend‘ verwende ich für Bücher nur sehr spärlich. Das einzige Buch, dem ich es nach meiner Erinnerung zugestanden habe, war das Buch «Nur noch eine Tür» von Uwe Schulz. Nun ist ein weiteres Buch dazu gekommen. Es stammt von Jürgen Wiebicke, freier Journalist, Autor, Philosoph, Moderator bei WDR5 für Das Philosophische Radio, aber auch das Tagesgespräch oder Neugier genügt. Dazu am philosophischen Festival phil.COLOGNE beteiligt. Nun könnte man annehmen, dass das Thema Sterben und Tod immer irgendwie berührend sei, schon wegen der Unumgänglichkeit für uns selbst. Aber das ist es nicht, der reale Tod nimmt hier nur in der Vergangenheit einen Platz ein, beim Tod des Vaters oder des Großvaters. Es geht ihm um etwas Anderes. Als Wiebicke klar wird, dass seine Mutter nicht mehr lange zu leben hat, beginnt er zu dokumentieren, was die Erlebnisse, Erfahrungen und Geheimnisse dieser Kriegsgeneration sind, von der seine Mutter in seiner Familie die vorletzte Vertreterin ist. Woher das häufige Schweigen kommt, über diese Zeit, welche Dinge nicht in die Öffentlichkeit sollten, was von den Geschehnissen der Zeit ab 1933 bis 1945  übrig blieb. Herausgekommen ist ein Buch, das um so nachdenklicher stimmt, je enger der zeitliche Horizont des Lesers ist. Oder, wie Wiebicke es formuliert, dass man selbst mit dem Tod der Eltern ein Kästchen weiter nach vorne rückt.

Jürgen WiebickeSieben Heringe

Als klar ist, dass Wiebickes Mutter wegen einer Krebserkrankung nicht mehr lange zu leben hat, setzt er sich häufiger mit ihr zusammen und sammelt ihre Schilderungen, aber auch Bekenntnisse und Geständnisse. Darin verwoben ist die Geschichte seines ein Jahr zuvor verstorbenen Vaters, seines Großvaters, aber auch der Tante und der weiterer Personen aus diesem und vorhergehenden Zeitabschnitten. Dabei kommt er nicht umhin, auch seine eigene Geschichte zu überdenken, Meinungen und Ansichten auf den Prüfstand zu stellen. So geht es insgesamt nicht nur um die Geschichte seiner Mutter, sondern um die Betrachtung der Jahre unter der Herrschaft der Nazis, der Besatzung erst durch Russen, dann durch Amerikaner und Briten, um Flucht und Vertreibung. Die Sicht auf diese Zeiten ist jedoch keine historische, sondern eine menschliche. Was hat diese Generation unserer Eltern – also auch meiner – so geprägt und warum fiel es oft schwer, loszulassen? Warum schweigt diese Generation beharrlich oder schreit in der Nacht? Es wird eine Suche nach Verstehen, nicht nach Schuld oder Gründen. Und es geht um ein Vermächtnis, das Wiebickes Mutter und Tante uns hinterlassen, ein warnendes Vermächtnis in einer Zeit, in der das Wissen um die Grauen des Krieges langsam wieder verloren geht.

Faszinierend an diesem Buch ist das Gesamtbild, das von dieser Generation der Kriegskinder entsteht. Man beginnt zu begreifen, was sie ausmachte und für die kommende Zeit nach diesem Krieg prägend war. Trotzdem es um hochemotionale Themen und Erlebnisse geht, bleibt Wiebicke in seiner Sprache linear, klar und eindeutig. Keine lyrische, sondern eine philosophische Sprache. Gleichzeitig wird die Gedankenwelt dieses Mannes deutlicher und sichtbarer, den ich schon so lange aus dem Radio kenne. Der auch nicht umhin kann, eine sehr plausible Erklärung für den derzeit vorherrschenden Hass und Furor nicht weniger Menschen unserer Zeit zu liefern, eben aus dem beginnenden Verstehen seiner Eltern. Dass es inzwischen viele Leute gibt, die vom Komfort und von der Sicherheit unserer Welt so abgestumpft sind, dass sie sich nur noch in ihrem Hass und ihrer Wut selbst spüren können. Solche Erkenntnis wäre eine sinnvolle Nutzung des Vermächtnisses dieser Generation.

Ein wunderbares Buch. Leuten meines Alters, geboren in den Fünfzigern bis Mitte der Sechziger, wärmstens ans Herz gelegt. Wenn es noch nicht zu spät ist.

Auch hörenswert: Jürgen Wiebicke im Gespräch mit Gisela Steinhauer im WDR 5 Tischgespräch (©2021 WDR Köln):

WDR 5 TischgesprächJürgen Wiebicke

Was wissen wir wirklich über das Leben unserer Eltern, der Kriegskinder? Wann ist der richtige Zeitpunkt, zum Archäologen des eigenen Lebens zu werden und die Eltern zu befragen? Jürgen Wiebicke folgt den Berichten seiner Eltern, die konfrontiert mit dem Tod von einer radikalen Offenheit getrieben sind und ihre Erlebnisse nicht mehr für sich behalten wollen. (Klappentext Verlag Kiepenheuer & Witch)

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  1. […] Leitfaden zur Rettung und Neubelebung der Demokratie. 2021 veröffentlichte er ein Buch über die Gespräche mit seiner krebskranke Mutter, die in ihrem letzten Lebensjahr erstmals über ihre Erlebnisse im Krieg sprechen kann. […] […]

  2. […] ich Jürgen Wiebickes Buch nun schon länger abgeschlossen habe, wirkt die Geschichte in mir nach. Einmal, weil es viele […]

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