Jürgen Wiebicke: Zu Fuß durch ein nervöses Land

Jürgen Wiebicke ist nicht der Erste, der auf die Idee kam, durch Deutschland zu Fuß zu reisen. Und doch macht er es anders. Kein sportlicher Hintergrund, sondern ein politisch-philosophischer. Nicht durch ganz Deutschland, oder quer durch Deutschland, sondern nur von Köln an den Niederrhein, durch das Münsterland bis nach Ostwestfalen. Er will herausfinden, was dieses Land noch zusammen hält, im so spektakulären Jahr 2015. Dazu erwischt er einen der heißesten Sommer im schweißtreibenden Juli. Das Buch erschien schon 2016, gelesen in einer Neuauflage in 2019. So macht er sich auf den Weg, schaut sich im Land um, spricht Leute an, die ihm auf seinem Weg begegnen, hat jedoch zusätzlich feste Termine, wie mit dem SPD-Urgestein Franz Müntefering, einer Philosophin, einer Künstlerin, einem Pater in einem Kloster, mit einem Museumsleiter in Herne. Es ist keine so ungewöhnliche Reise, ungewöhnlich ist, wie ein Philosoph auf die Dinge schaut. Auf die Dinge, die das Jahr 2015 prägen, die vielen Flüchtlinge, die Krise in Griechenland, die die Eurozone zu sprengen droht, der Aufstieg der AfD, überhaupt die Nervosität in Deutschland. Und wie man es von Jürgen Wiebicke erwarten würde, sind es nicht die Ereignisse auf dieser Reise, die den wirklichen Inhalt des Buches ausmachen. Sondern seine Gedanken dazu, wie es wohl Aristoteles, Marc Aurel oder Sokrates sehen würde. Oder eben Jürgen Wiebicke.

Jürgen WiebickeZu Fuß durch ein nervöses Land

Dabei macht er vor nichts Halt. Spricht mit Migranten in Fußgängerzonen, marschiert in ein ungewöhnlich freundlich gestaltetes Beerdigungsinstitut, lässt sich durch die Fleischproduktion bei Tönnies führen, durchwandert die Stadtteile, in denen prekär gelebt wird. Lässt aber auch nicht die Nobelecken aus, in denen die wirklich Wohlhabenden ihren Luxus hinter Mauern und hohen Hecken verbergen. Er wandert durch die verfallenden Ruhrgebietsorte, die nach dem Ende der Zechen und der Schwerindustrie im Sterben liegen. Es kommen die Leute zu Wort, die meistens nicht gesehen werden. Ein spielsüchtiger Deutsch-Türke, ein psychisch Kranker in Gütersloh, ein einsamer Angler an einem Kanal im strömenden Regen. Aber auch ein Pater im Kloster und einige Landwirte, die er an Feldern trifft. Ein breites Spektrum an Menschen, die alle zusammen dieses Land ausmachen, über die wir wenig wissen und von denen viele mehr oder weniger unsichtbar sind. Wer dabei noch auf die Idee kommen kann, es gabe in Deutschland so etwas wie einen Volkskörper, so etwas wie ein einig Volk, muss die Realität schon heftig verdrängen.

Es zeigt sich dabei, wie viele unserer Stereotypen und Vorstellungen genau so an der Wirklichkeit vorbei gehen. Das Leben auf dem Land, die Arbeit der Landwirte, wie Höfe bewirtschaftet werden, hat mit den Bildern auf den Eierkartons schon lange nichts mehr zu tun. Nur noch die ganz großen Betriebe überleben und florieren. GPS-gesteuerte Beregnungsanlagen sorgen für Millionen von Blumentöpfen aus Plastik, die auf Planen stehen, auf Flächen, die mehreren Fußballfeldern entsprechen. Wie die genossenschaftlichen Schlachthöfe schon lange verlassen sind, seit in Rheda-Wiedenbrück an jedem Tag der Woche 25.000 Schweine geschlachtet werden. Doch es gibt auch andere Geschichten. Wie der Kölner Pastor Franz Meuer, der in einer bewunderswerten Aktion die Bewohner der nicht so schönen Stadtteile von Köln dazu gebracht hat, für die Beete und Grünflächen zu sorgen. Oder die Bielefelder Gruppe, die städtisches Gärtnern unterstützt und Repair Cafés eröffnet hat.

Interessant macht das Buch, wie der Philosoph auf diese Geschichten blickt, nicht wertend, nicht sortierend. Dann kommen wieder die Fragen nach dem guten Leben und zuletzt, wie alles dies zusammen Gemeinschaft bildet. Oder eben nicht mehr. Wie eine Gemeinschaft zerfällt und wie sie erhalten werden kann. So ist es wieder die Frage nach dem Sinn, wohin diese Gemeinschaft Deutschand geht und wie die Vielfalt zu Gemeinschaft geführt werden kann. In diesem Sinne hat das Buch viel mit Wiebeckes Wanderung zu tun, der Weg ist das Ziel. Es läuft nicht auf einen Katalog von Maßnahmen und Ratschlägen hinaus, sondern der Leser kann sich seine eigene Sicht bilden, Entscheidungen für seinen Anteil an der Gemeinschaft ausloten. Jürgen Wiebeckes klare Sprache, seine Unaufgeregtheit und Nüchternheit, die nie unpersönlich ist, lassen Raum für eigene Gedanken. Sie zeigen jedoch auch, dass jeder Einzelne in der Verantwortung ist, dieses Land zusammen zu halten.

Der Wanderer ist der moderne Mystiker. Ich bin ein anderer als der, der ich zuhause bin. Mein Blick ist klarer, mein Verhältnis zur Welt dichter. Was mich erschöpft, macht mich glücklich. Ich triumphiere über meine Bequemlichkeit. Ich bin viel allein und befreunde mich mit mir selbst. Ich suche nicht nach der einen Wahrheit, für die es eine Sprache gäbe. Weil es sinnlos wäre, etwas festhalten zu wollen, was seinem Wesen nach flüchtig ist. Ich will den Weg, nicht das Ziel. Obwohl ich dann abends doch froh bin, wenn ich es erreicht habe. Bereits jetzt weiß ich, dass eine Sehnsucht nach Wiederholung geben wird, sobald ich erst wieder zuhause bin. Aber ich weiß auch um die Vergeblichkeit dieser Sehnsucht. Der Wanderer als moderner Mystiker steigert seine subjektive Wahrnehmung von Zeit. Hinterher, wenn der Tag geschafft ist, erinnere ich mich daran, in welchen Momenten sie sich gedehnt oder gerafft hat, wann der eine Kilometer ewig gedauert oder wie im Fluge vergangen ist. Ich schärfe auf diese Weise das Bewusstsein für meine Endlichkeit. Ich weiß, dass das, was ich jetzt tue, mir irgendwann nicht mehr gelingen wird, weil die Kräfte unweigerlich weniger werden. Darüber denke ich unterwegs viel nach. Mal in friedlichem Einverständnis, mal melancholisch, mal rebellisch. (Jürgen Wiebicke)

Jürgen Wiebicke studierte Germanistik und Philosophie in Köln, nebenbei jobbte er am Fließband und fuhr LKW. Nach dem Studium volontierte er beim Sender Freies Berlin (SFB), wurde anschließend als Redakteur fest angestellt und arbeitete schließlich als Redaktionsleiter. 1997 gab er diese Position auf, machte sich selbstständig und begann als freier Hörfunk-Journalist beim Sender WDR 5. Dort moderiert er seither das Vormittagsprogramm Neugier genügt, das Tagesgespräch und die interaktive Philosophie-Sendung Das philosophische Radio. Im Deutschlandfunk ist er in unregelmäßigen Abständen in der Sendung Agenda (früher: Länderzeit) zu hören. Wiebicke gehört zur Programm-Leitung des internationalen Philosophie-Festivals phil.Cologne. […] 2015 begab sich Wiebicke auf eine Wanderung durch Deutschland, „um etwas über den Zustand unserer Gesellschaft zu erfahren.“ Auf den Erlebnissen und Begegnungen dieser Reise basierend schrieb er Zu Fuß durch ein nervöses Land. Auf der Suche nach dem, was uns zusammenhält. 2017 erschien Zehn Regeln für Demokratie-Retter – ein Leitfaden zur Rettung und Neubelebung der Demokratie. 2021 veröffentlichte er ein Buch über die Gespräche mit seiner krebskranke Mutter, die in ihrem letzten Lebensjahr erstmals über ihre Erlebnisse im Krieg sprechen kann. (Aus: Wikipedia.de)

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